Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
so schwach fühle«, klagte ich. »Es ist fast so, als könnte ich sofort wieder gehen, wenn ich dazu gezwungen wäre. Zumindest habe ich ab und zu das Gefühl.«
Er nickte verständnisvoll. »Dein Gefühl täuscht dich. Dr. Malisoff hat mir das genau erklärt. Der Verstand möchte die Grenzen, die dein Körper setzt, nicht akzeptieren.«
Ich wollte ihm zeigen, daß er, Mrs. Broadfield und die Ärzte sich irrten; deshalb bat ich ihn nicht, mir aus dem Rollstuhl und ins Bett zu helfen. Mit den Händen hielt ich mich zitternd an den Armlehnen des Stuhles fest, während ich versuchte, aufzustehen. Aber selbst als ich mein ganzes Gewicht auf den Oberkörper verlagerte und mein Unterkörper nur noch wie eine Kugel an einer Kette war, konnte ich mich nicht richtig hochstemmen und fiel wieder in den Rollstuhl zurück. Mein Herz klopfte heftig von der Anstrengung. Ich spürte einen stechenden Schmerz zwischen den Augenbrauen und stöhnte laut auf.
»Siehst du, es ist genauso, wie ich gesagt habe. Du hast das Gefühl, du könntest alles so tun wie immer, aber es geht nicht. Auf diese Art versucht der Kopf zu leugnen, was passiert ist.« Tony blickte einen Augenblick zur Seite. »Und manchmal weigert sich selbst der beste, der stärkste Verstand zu glauben, was der Körper… was die Wirklichkeit ihm als Wahrheit mitteilt. Man erfindet, phantasiert und tut alles, um nicht die Worte hören zu müssen, die so bedrohlich sind«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
Ich starrte ihn wortlos an. Er hatte so leidenschaftlich gesprochen, so heftig, daß ich ganz überwältigt war. Dann wandte er sich erneut mir zu. Sein Gesicht hatte sich wieder verändert, und seine Augen drückten liebevolle Anteilnahme aus. Er beugte sich über mich, wobei sein Gesicht dem meinen so nahe kam, daß sich unsere Lippen beinahe berührten. Dann schob er seine Hände unter meine Arme, um mich aus dem Stuhl auf das Bett zu heben. Einen Augenblick lang hielt er mich fest, drückte mich an sich und preßte seine Wange gegen die meine. Ich dachte, er würde Mammis Namen flüstern, aber dann hob er mich mit einem sanften Schwung auf das Bett, und ich sank in die Kissen.
»Ich bin hoffentlich nicht zu grob«, sagte er, noch immer über mich gebeugt. Sein Gesicht war immer noch dicht über dem meinen…
»Nein, Tony.« Ich wußte, daß meine Gedanken unfair und sogar töricht waren, aber ich haßte meinen Körper dafür, daß er mich im Stich ließ und mich der Gnade und Hilfsbereitschaft anderer Menschen auslieferte.
»Vielleicht solltest du vor dem Abendessen noch ein Schläfchen machen«, meinte er. Sein Vorschlag wäre gar nicht nötig gewesen. Meine Augenlider waren so schwer, daß ich sie kaum offenhalten konnte. Jedesmal, wenn ich aufschaute, hatte ich den Eindruck, als würde sich Tony immer näher über mich beugen. Ich wußte, daß es eigentlich unmöglich war und daß ich unterhalb der Taille keine Berührung spüren konnte, aber ich hatte das Gefühl, als würden seine Hände meine Beine liebkosen. Ich bemühte mich, wach zu bleiben, um das, was ich sah, bestätigen oder widerlegen zu können, aber ich schlief sehr rasch ein, als hätte ich ein Beruhigungsmittel bekommen. Mein letzter Gedanke galt Tonys Lippen, die über meine Wange zu meinem Mund wanderten…
Ich erwachte wieder, als Millie Thomas gerade das Tablett mit dem Abendessen auf das Tischchen neben meinem Bett stellte. Offensichtlich hatte ich ein Sommergewitter verschlafen, denn ich konnte den frischen, feuchten Regenduft einatmen, obwohl der Himmel nur noch teilweise bewölkt war.
Als ich mich daran erinnerte, wie Tony mir ins Bett geholfen hatte, sah ich es wieder vor mir: Seine Hände auf meinen Beinen, seine Lippen so nahe bei den meinen – aber es mußte ein Traum gewesen sein. Ohnehin war es eine sehr flüchtige und verschwommene Erinnerung.
»Ich wollte Sie nicht aufwecken, Miß Annie«, sagte Millie schüchtern.
Ich blinzelte ein paarmal, dann richtete ich den Blick auf sie. Sie hielt die Arme so eng an den Körper gepreßt, als wäre sie ganz zerknirscht, so wie jemand aus den Willies, der gerade von dem alten Pastor Wise eine Lektion erteilt bekommen hatte.
»Das macht doch nichts, Millie. Ich sollte nicht schlafen. Es hat geregnet, stimmt’s?«
»Oh, wie verrückt, Miß Annie!«
»Bitte, nennen Sie mich nicht Miß Annie. Sagen Sie einfach nur Annie.« Millie nickte zaghaft. »Woher kommen Sie, Millie?«
»Aus Boston.«
»Wissen Sie, wo Harvard
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