Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Traurig, aber nicht schwer. Klar, ich bin nach dem Abendessen in meinem Zimmer geblieben und hab das Haus den Geistern überlassen. Aber jetzt«, fuhr er mit einem Lächeln fort, »jetzt ziehen sie sich zurück und schweben vor allem über ihren Gräbern, weil’s hier wieder Licht und Leben gibt. Geister können es nicht leiden, wenn junge Leute da sind. Das macht sie ganz hektisch, weil die Jungen so viel Energie haben und so viel Schwung.«
»Sie haben diese Geister wirklich schon im Haus gehört, Rye?« Ich neigte den Kopf zur Seite und lächelte ihn an; doch er erwiderte das Lächeln nicht. Seine Miene blieb tiefernst.
»O ja, Miß. Vor allem nachts. Da ist ein Geist, der ist sehr unglücklich, läuft durch die Flure und durchstöbert Zimmer.«
»Und was sucht er?«
»Weiß ich nicht, Miss Annie. Ich red nicht mit ihm, und er redet nicht mit mir. Aber ich hab ihn gehört, wie er rumläuft. Und dann hab ich die Musik gehört.«
»Musik?«
»Klaviermusik. Schöne Musik.«
»Haben Sie denn nie Mr. Tatterton darauf angesprochen?«
»Nein, Miß Annie. War gar nicht nötig. Hab’s an seinen Augen gesehen.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Daß er die gleichen Sachen gehört und gesehen hat wie ich. Aber Sie vergessen das alles besser. Sie werden jetzt ganz schnell wieder gesund. Der alte Rye ist nicht zu bremsen, jetzt, wo er wieder für jemand kochen kann.«
Ich dachte einen Augenblick nach.
»Rye, gibt es hier ein Pferd, das Kohlenschaufel heißt?«
»Kohlenschaufel, Miß Annie? Zur Zeit gibt’s hier kein einziges Pferd. Schon lang nicht mehr. Kohlenschaufel?« Seine Augen wanderten durch den Raum, während er nachdachte.
»Kohlenschaufel, ja, das war doch der Name, den Miß Jillian ihrem Pony gegeben hat. Sie lebte auf einem Ponyhof, als sie ‘n junges Mädchen war. Ich erinnere mich, wie sie die ganze Zeit über das Pony geredet hat. Aber wir hatten hier nie eins, das Kohlenschaufel hieß. Ihres hieß Abdulla Bar. Ein teuflisches Vieh«, sagte er, und seine Augen schimmerten ängstlich.
»Wie meinen Sie das, Rye?«
»Das Pony ließ niemanden reiten, außer Miß Jillian. Also hielt Mr. Tatterton alle anderen Leute von ihm fern. Außer dem einen Mal. Schrecklich. Aber es war nicht seine Schuld«, fügte er hastig hinzu.
»Was ist damals geschehen?«
»Oh, jetzt sollten wir nicht über traurige Sachen reden, Miß Annie. Sie haben genug Schweres zu tragen.«
»Bitte, Rye, ich will Mr. Tatterton nicht fragen, aber ich möchte es gerne wissen.«
Er blickte sich scheu um, dann trat er näher an mein Bett heran, schüttelte den Kopf und senkte den Blick.
»Es war sein Bruder, Mr. Troy, Miß Annie. Eines Tages sprang er einfach auf das Pferd und ritt mit ihm ins Meer. Nur ein Teufelspferd macht so was. Jedes andere Pferd hätte sich geweigert, reinzugehen.«
»Das war es also, was Drake meinte, als er sagte, Troy habe Selbstmord begangen. Er ritt mit dem Pferd meiner Urgroßmutter ins Meer und – «
»Und ist ertrunken, Miß Annie. Scheint so, als hätt dieses Haus schon mehr als genug Leid gesehen, stimmt’s, Miß Annie?« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal ist es schon schwer, wenn man so alt wird. All die schlimmen Erinnerungen. Und dann die Geister!«
»Aber warum hat er das gemacht, Rye?«
»Ach, das weiß ich nicht«, sagte er rasch; viel zu rasch, dachte ich. »Troy war ein gutaussehender junger Mann und sehr tüchtig. Er machte viele von den Spielsachen, aber er nannte sie nie Spielsachen. Für ihn waren sie eher so was wie Kunst.« Er schüttelte den Kopf und lächelte bei dem Gedanken daran. »Kleine Häuschen und kleine Menschen, manche in Spieldosen.«
»In Spieldosen?«
»Mit herrlichen Melodien… wie Klaviermusik.«
»Chopin«, murmelte ich. Die Erinnerung an die Spielzeughütte meiner Mutter ließ mein Herz schneller schlagen, und eine plötzliche Traurigkeit überwältigte mich.
»Was ist los, Miß Annie?«
Rasch wandte ich den Blick ab, weil ich nicht wollte, daß er meine Tränen sah.
»Ich habe nur gerade an einen… Komponisten gedacht.«
»Ach so. Na, ich sollte wirklich lieber zurück in die Küche und schauen, was Roger anstellt. Der alte Rye kann ja nicht immer in dieser Küche arbeiten, und Mr. Tatterton braucht einen guten Koch, wenn mich mal mein Schöpfer zu sich heimruft. Im Moment stell ich mich da natürlich taub, Miß Annie«, meinte er mit einem zufriedenen Grinsen. Wir lachten beide.
»Ach, jetzt hätt ich fast Ihre Götterspeise vergessen.« Er stellte
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