Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
ihren Tod, die Ankunft meiner Mutter, ihren unglücklichen Abschied von Tony Tatterton – und nun noch meine tragische Ankunft.
Seine dünnen Haare waren weiß wie Schnee, aber er hatte ein erstaunlich glattes, fast faltenloses Gesicht und wirkte sehr flink für einen Mann, der meiner Schätzung nach mindestens achtzig Jahre alt sein mußte.
»Meine Mutter hat oft und voller Zuneigung von Ihnen gesprochen, Rye.«
»Das höre ich gern, Miß Annie, denn ich mochte Ihre Mama sehr.« Er lächelte breit und nickte, wobei sein Kopf hin und her schnellte, als sei sein Hals eine Sprungfeder. »War das Essen in Ordnung?«
»Oh, sehr lecker, Rye. Ich habe im Augenblick nur einfach nicht viel Appetit.«
»Na, der alte Rye wird das schon noch ändern.« Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen, und er nickte wieder. »Und wie kommen Sie zurecht, Miß Annie?«
»Es ist nicht einfach für mich, Rye.« Merkwürdig, dachte ich, aber es fiel mir so leicht, gleich von Anfang an offen mit ihm zu reden. Vielleicht lag das an der Art, wie meine Mutter über ihn gesprochen hatte, voll Zuneigung und Vertrauen.
»Hab ich erwartet.« Er wippte auf seinen Fersen. »Ich kann mich gut erinnern, wie Ihre Mama das erste Mal zu mir in die Küche kam. Als wäre es gestern gewesen. Genau wie Sie. Sie hatte so viel Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Mama. Sie kam oft in die Küche und schaute mir stundenlang beim Kochen zu. Saß auf einem Hocker, den Kopf in die Hände gestützt, und hat mich mit allen möglichen Fragen über die Tattertons gelöchert. Sie war so neugierig wie’n Kätzchen, das in den Wäschekorb geraten ist.«
»Was wollte sie wissen?«
»Na, so ziemlich alles, was ich noch über die Familie wußte – Onkel, Tanten, Mr. Tattertons Papa und Opa. Naja, und wie in jeder richtigen Familie gab’s Sachen, über die anständige Leute wie ich nicht reden.«
Welche Sachen? Hätte ich ihn gar zu gerne gefragt, aber ich biß mir auf die Zunge, weil ich noch abwarten wollte. Rye schlug sich mit den Händen auf die Schenkel und seufzte.
»Gibt’s denn was Besonderes, was ich mal für Sie machen kann?« fragte er, offensichtlich um das Thema zu wechseln.
»Ich liebe gebratenes Huhn. Unser Koch in Winnerrow macht einen Frittierteig – «
»Ach, nee… na, Sie haben mein Brathähnchen noch nicht versucht, Kindchen. Ich mach’s diese Woche noch für Sie. Es sei denn, Ihre Krankenschwester verbietet’s.« Er blickte sich um, weil er sich versichern wollte, daß Mrs. Broadfield nicht im Zimmer war. »Sie kommt immer mit ‘ner ganzen Liste von Anweisungen und Verboten in die Küche. Macht Roger, meinen Jungen, ganz nervös damit.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß gebratenes Huhn mir schaden könnte, Rye«, sagte ich und wandte den Blick zum Fenster. »Farthy war viel schöner, als meine Mutter hier lebte, nicht wahr?«
»Ach, und wie! Also, wenn die Blumen blühten, sah’s aus wie das Tor zum Paradies.«
»Warum hat Mr. Tatterton es so verfallen lassen?«
Rye blickte hastig zur Seite. Ich merkte, daß meine Frage ihm unangenehm war; doch dadurch wuchs meine Neugier nur noch.
»Mr. Tatterton ging’s nicht besonders gut, Miß Annie, aber er hat sich ziemlich verändert, seit Sie hier sind. Er ist wieder fast der Alte – redet davon, daß er dieses und jenes herrichten und bauen lassen will. Das ist gut für uns und schlecht für die Geister«, flüsterte er.
»Geister?«
»Na ja, wie in jedem großen Haus, in dem so viele Leute gelebt haben, treiben sich hier natürlich Geister rum, Miß Annie.« Er nickte nachdrücklich. »Aber ich mach da nichts dagegen, und Mr. Tatterton auch nicht. Wir leben neben ihnen her, sie tun uns nichts, und wir tun ihnen nichts.«
Ich merkte, daß er es ganz ernst meinte.
»Sind denn noch viele Angestellte aus der Zeit meiner Mutter hier, Rye?«
»O nein, Miß Annie. Nur ich, Curtis und Miles. Die ganzen Dienstmädchen und das Gartenpersonal sind weg, die meisten tot.«
»Arbeitet hier auch ein großer, hagerer Mann, der um einiges jünger ist als Curtis?«
Rye überlegte einen Augenblick; dann schüttelte er den Kopf.
»Es gibt ein paar Gärtner, aber sie sind alle untersetzt und kräftig.«
Wer war der Mann am Grab meiner Eltern? fragte ich mich wieder. Rye sah mich ununterbrochen mit einem liebevollen Lächeln auf dem Gesicht an.
»Waren die letzten Jahre schwer für Sie, Rye, weil sich Mr. Tatterton in diesem seltsamen Zustand befand?«
»Nein, Miß Annie, nicht schwer.
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