Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
die Hauptstraße ein Bad nehmen mußte«. Daddy brauchte nicht lange, um Mama von alldem fortzulocken. Ich brachte sie dazu, mir diese Geschichte immer wieder von neuem zu erzählen, und ich störte mich nie daran, daß sie jedesmal, wenn sie sie erzählte, etwas hinzufügte, etwas abänderte oder etwas vergaß, was sie mir schon erzählt hatte. Der Kern der Geschichte war immer derselbe, und das war eins der ersten Dinge, die ich in meinem Buch niederschreiben wollte.
Als sie am frühen Abend in mein Zimmer kam, um mit mir zu reden, während wir uns beide fertig machten, um mein Geburtstagsessen in einem schicken Bostoner Restaurant einzunehmen, bat ich sie daher, mir die Geschichte noch einmal zu erzählen.
»Wirst du denn nie müde, dir das anzuhören?« fragte sie und warf mir einen schnellen Seitenblick zu.
»O nein, Mama. Ich finde, das ist eine wunderbare Geschichte, eine Geschichte wie aus einem Traum. Niemand könnte je eine so schöne Geschichte schreiben«, sagte ich, und das machte sie sehr glücklich.
»Nun gut«, sagte sie und setzte sich an meine Frisierkommode. Sie begann, sich das schöne Haar zu bürsten, bis es wie gesponnenes Gold schimmerte. »Ich habe gelebt wie das arme Aschenbrödel, ehe sein Prinz kam«, begann sie die Geschichte wie immer. »Aber so war es nicht immer. Ich war der Augapfel meines Vaters. Er war als Aufseher verantwortlich für das gesamte Geschehen auf einem Ölfeld gleich in der Nähe. Er hatte zwar keine Angst, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn es sein mußte, aber er war ein äußerst eleganter Mann. Ich hoffe, eines Tages wirst du einen Mann wie meinen Vater finden.«
»Ist Daddy denn nicht auch so? Ihm macht es doch auch nichts aus, auf seinen Schiffen zu arbeiten und mit seinen Männern im Maschinenraum zuzupacken.«
»Ja«, sagte sie trocken, »es stört ihn nicht. Aber ich wünsche mir jemanden für dich, der ganz anders ist, einen richtigen Geschäftsführer, der Männer herumkommandiert und in einem Herrenhaus wohnt und…«
»Aber wir leben doch in einer herrschaftlichen Villa, Mama«, protestierte ich. Unser Haus war das größte und luxuriöseste Stadthaus dieser Straße, eine klassische Villa im Kolonialstil mit überdimensionalen Eingangshallen und einer Deckenhöhe von vier Meter zwanzig. Alle meine Freundinnen waren begeistert von unserem Haus, und besonders beeindruckte sie das Eßzimmer mit seiner Deckenkuppel und den ionischen Säulen. Mama hatte es vor zwei Jahren umgestalten lassen, als sie genau so etwas in einer ihrer Kunstzeitschriften gesehen hatte.
»Ja, ja, aber ich will, daß du auf einem Anwesen mit vielen Morgen Land lebst, mit Pferden und Teichen und einigen Dutzenden von Bediensteten und einem eigenen Privatstrand. Und…« Ihre Augen verschwammen träumerisch und schweiften in die Ferne, als sie dieses wunderbare Herrenhaus mit seinen Parkanlagen heraufbeschwor, »…sogar einen Irrgarten wird es haben.«
Sie schüttelte den Kopf, als bemühte sie sich, aus ihren Tagträumen zu erwachen, und mit langen, anmutigen Bürstenstrichen begann sie wieder, ihr wallendes Haar zu glätten. Sie sagte, man müsse es abends mit mindestens hundert Bürstenstrichen durchbürsten, damit es geschmeidig und gesund blieb, und das Haar einer Frau sei ihre Krone. Gewöhnlich trug sie es aufgesteckt oder aus dem Gesicht zurückgebunden, damit man ihr klassisches Profil sehen konnte.
»Jedenfalls waren meine Schwestern, die Bügelbrettzwillinge, schrecklich eifersüchtig, weil mein Vater mir soviel Liebe entgegenbrachte. Oft hat er mir etwas Schönes mitgebracht und nur praktische Dinge wie Nähkästchen und Häkelnadeln für die beiden. Sie wollten ja ohnehin keine hübschen Haarschleifen oder neue Ohrringe oder Kämme haben. Sie haben mich dafür gehaßt, daß ich hübsch war, das verstehst du doch? Und sie hassen mich immer noch dafür.«
»Aber dann ist dein Vater gestorben, und dein älterer Bruder ist zum Militär gegangen«, sagte ich, weil ich es kaum abwarten konnte, zum romantischen Teil der Geschichte zu gelangen.
»Ja, und wie sehr sich die Dinge änderten! Dann wurde ich wirklich zum armen Aschenbrödel. Sie haben mich alle Hausarbeiten verrichten lassen, und immer wieder haben sie meine hübschen Sachen vor mir versteckt. Wenn ich nicht getan habe, was sie wollten, haben sie meine Kämme zerbrochen oder meinen Schmuck vergraben. Sie haben all meine Kosmetiksachen weggeworfen«, erzählte sie haßerfüllt.
»Aber was war mit
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