Castello Christo
Glücks durch seinen Körper strömen. Ob er bereit war? Nach all den Jahren des Wartens auf diesen einen großen Tag?
»Ja, ich bin bereit«, antwortete er feierlich.
»Dann dreh dich um.«
Bevor er der Aufforderung nachkam, betrachtete er noch einmal Lucas Gesicht. Er wusste nicht, ob er den Mann, den er fast sein ganzes Leben lang kannte, noch einmal wiedersehen würde, wenn er erst einmal seinen wahren Vater getroffen hätte. Sein hageres Gesicht mit der großen Nase, die sich quer über die Stirn ziehende wulstige Narbe, die schwarzen Augen, die ihn unverwandt anblickten ... Er wusste nicht, wie alt Luca sein mochte, aber das spielte auch keine Rolle. Alter war kein Begriff, der Tommaso und seine Brüder interessierte. Essen hatte ihn interessiert, eine Decke gegen die Kälte im Winter und Wasser gegen den Durst. Ihm war lediglich aufgefallen, dass Lucas schulterlange Haare, die früher pechschwarz gewesen waren, irgendwann einen schmutzigen Grauton angenommen hatten.
Tommaso lächelte diesem Gesicht noch einmal zu und sagte: »Ich freue mich.« Dann drehte er ihm den Rücken zu.
»Nun knie nieder und schließ die Augen«, sagte Luca.
Lucas Stimme klang nicht streng wie sonst, sondern freundlich und sanft. Der beste Beweis, dass er auf der Schwelle zum Paradies stand. Langsam ließ er sich auf die Knie sinken. Was würde nun geschehen? Er wusste, dassLuca mit einem geheimnisvollen Ritual beginnen würde, das im höchsten Glück gipfelte. Sie hatten ihm und seinen Brüdern erklärt, dass es ein unvergessliches Erlebnis sein würde, wenn der große Tag für sie gekommen war. Aber was genau geschehen würde, hatte man ihnen nicht verraten. Ihre neugierigen Fragen dazu waren stets mit einem undefinierbaren Lächeln bedacht worden.
»Es wird schön sein«, hatte Luca ihm noch an diesem Morgen geantwortet, als er danach gefragt hatte. Und wenn Luca das sagte, dann würde es auch so sein. Luca war immer gut zu ihm gewesen.
Als Tommaso vor ihm auf dem Boden kniete, strich Luca die langen verfilzten Haare des jungen Mannes zurück, so dass der Hals frei lag und die Tätowierung deutlich zu erkennen war. Langsam, aber bestimmt drückte Luca Tommasos Kopf nach links, bis das Ohr fast die Schulter berührte. Die Haut über dem Hals spannte sich. Mit einer geübten Bewegung setzte Luca die Spritze an, die er im weiten Ärmel seiner Kutte verborgen hatte.
Tommaso war kurz zusammengezuckt, als die Spritze in seine Halsschlagader drang, bewegte sich dann aber nicht mehr, bis der Kolben leer war. In dem Moment, als Luca die Nadel herauszog, riss Tommaso erschrocken die Augen auf. Ausgehend von der Stelle am Hals, an der er gerade den Stich gespürt hatte, raste etwas unglaublich Heißes durch seinen Körper. Innerhalb von Sekunden stand er innerlich in Flammen. Er versuchte, sich aufzurichten, doch seine Beine knickten ein, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er versuchte zu verstehen, was mit ihm geschah, aber die Gedanken wollten ihm nicht mehr gehorchen. In seinem Kopf blitzten Satzfragmente auf.
Das Schönste, was du je erlebt hast
...
Er schlug hart auf dem Boden auf.
Luca
...
Eine große Lüge
...
Die Schmerzen
...
Seine Arme und Beine begannen wild zu zucken, und sein Kopf schlug immer wieder gegen den Boden.
Vater
...
Vater?
Alles um ihn herum war in irrer Bewegung, während der Lavastrom ihn innerlich verbrannte. Einmal noch nahm er Luca über sich wahr, ins Riesenhafte verzerrt, ein Monster. Dann legte sich ein Schleier über seine Sinne und die Welt um ihn herum bestand nur noch aus kratzenden, kreischenden Geräuschen, während seine Organe sich in einem nicht enden wollenden, höllischen Schmerz auflösten.
Luca stand neben dem Körper und sah zu, wie die konvulsivischen Zuckungen immer schwächer wurden. Tommasos Augen waren jetzt so verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war, und die Zunge hing ihm aus dem Mund, aus dem nur noch ein leises Röcheln drang. In wenigen Sekunden würden auch die letzten Zuckungen aufhören. Luca hatte in den letzten Tagen schon einigen jungen Männern beim Sterben zugesehen, und es würde bei Tommaso nicht anders sein. Obwohl – ein wenig anders war es bei Tommaso schon, denn in den vergangenen siebzehn Jahren war er ihm fast ein wenig ans Herz gewachsen ...
Luca wandte sich ab. Er musste den anderen Bescheid geben. Sie mussten Tommaso an seinen Platz schaffen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. Der Körper lag nun still. Er
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