Castillo der Versuchung
ihrem Stickrahmen auf. „Ich bin es nicht gewohnt, untätig herumzusitzen.“
„Darf ich deine Stickerei einmal sehen?“
Sophie nickte, und die alte Dame bewunderte die aus winzigen Stichen bestehenden, so natürlich wirkenden Blätter und Vögel. „Das ist wirklich ein kleines Meisterwerk. Du bist sehr talentiert. Wer hat dir das beigebracht? Deine Mutter?“
„Nein, die habe ich gar nicht gekannt. Eine Nachbarin, die ich als Kind oft besuchte, hat es mir gezeigt.“ Wehmütig dachte Sophie an die alte Frau, die ihr damals so oft Zuflucht vor den unruhigen Verhältnissen zu Hause geboten und ihr Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt hatte. „Sie hat mir das Sticken beigebracht, als ich vier war, und auch zehn Jahre später, kurz vor ihrem Tod, konnte sie mir immer noch neue Kniffe zeigen.“
„Du bist offensichtlich eine sehr gelehrige Schülerin gewesen. Vielleicht hast du irgendwann einmal Lust, dich der Ausbesserung unserer Wandteppiche und antiken Wäschestücke anzunehmen.“ Doña Ernesta hob Lydia auf ihren Schoß und lächelte ihre Urenkelin glücklich an. „Wir haben hier viele Kunsthandarbeiten, die es dringend nötig hätten, von einer so versierten Stickerin überholt zu werden.“
„Selbst wenn ich mich in diese Richtung weiterbilden würde, glaube ich nicht, dass mir Antonio gestattet, das Familienerbe anzurühren“, meinte Sophie.
Ihr Gegenüber sah sie erstaunt an. „Aber du gehörst doch jetzt auch zur Familie.“
Eine Bedienstete kam mit einem Tablett herein. „Ich habe uns schwarzen Tee und Scones kommen lassen“, sagte Doña Ernesta, und Sophie goss jedem eine Tasse Tee ein. Während der vergangenen Woche hatten zahlreiche Verwandte und Nachbarn Sophie ihre Aufwartung gemacht, und Doña Ernesta war ihr dabei eine große Unterstützung gewesen. Offensichtlich wollte sie die Ehefrau ihres Enkels tatsächlich kennenlernen. Sophie tat es leid, dass sie zu unglücklich war, um den Bemühungen von Antonios Großmutter mit größerer Herzlichkeit zu begegnen.
„Hast du von Antonio gehört?“, fragte Doña Ernesta jetzt freundlich.
Damit hatte sie Sophies wunden Punkt angesprochen, und die junge Frau errötete. „Nein … schon seit einigen Tagen nicht mehr.“
„Bestimmt ist er außerordentlich beschäftigt“, versuchte Doña Ernesta Sophie zu trösten.
„Ja, fragt sich nur, mit wem“, überlegte Sophie zerknirscht. Doch dann schob sie den Gedanken beiseite. Es brachte nichts, sich zu quälen. Schließlich hatte sie keinerlei Kontrolle über Antonio. Nur wenig später verlor sie sich jedoch erneut in Grübeleien. Und es konnte sie auch nicht trösten, dass sie ihre zarten Bande selbst mit unbedachten Worten zerstört hatte. Antonio war inzwischen acht Tage fort. Er hatte zwar einige Male angerufen, war aber jedes Mal sehr kurz angebunden gewesen. Wenn sie versuchte, persönlicher zu werden, blockte er ab.
„Darf ich ganz offen mit dir sprechen?“, fragte Doña Ernesta jetzt.
Sophie erschrak. „Natürlich …“
„Du wirkst unglücklich. Ich will mich nicht in eure Angelegenheiten einmischen, aber stimmt irgendetwas nicht?“
Antonio würde nicht wollen, dass sie sich seiner Großmutter offenbarte, deshalb wiegelte Sophie ab. „Nein, nein, alles in Ordnung.“
„Natürlich vermisst du ihn. Wie schade, dass er so kurz nach der Hochzeit wieder fortmusste.“
Sophie traten Tränen in die Augen. Sie vermisste ihn in der Tat ganz schrecklich, und sich einzugestehen, dass sie Antonio liebte und eigentlich die ganze Zeit über geliebt hatte, ging ihr zu Herzen.
„Hier ist es viel zu langweilig für dich, wenn er nicht da ist“, stellte Doña Ernesta nun fest. „Warum fährst du nicht für einige Tage nach Madrid? Wir haben dort ein Haus. Du könntest dir ein paar hübsche neue Kleider kaufen und dich mit den jüngeren Familienmitgliedern treffen. Ich glaube, einige hast du schon auf der Hochzeit deiner Schwester kennengelernt.“
Sophie war hin- und hergerissen: Im Castillo herumzusitzen und nichts zu tun deprimierte sie. Wenn sie aber nach Madrid führe, ohne dass Antonio sie darum gebeten hatte, sah es vielleicht so aus, als liefe sie ihm nach. Womöglich wäre er auch verärgert. Ihre Vereinbarungen gewährten ihr nicht allzu viel Spielraum. Denn sie war ja damit einverstanden gewesen, dass Antonio tun und lassen konnte, was er wollte. Im Gegenzug hatte sie nur darum gebeten, sich um Lydia kümmern zu dürfen. Dieser Wunsch war ihr erfüllt worden, sie hatte
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