Cathérine de Montsalvy
befanden sie sich auf der Hauptgabelung des Baums. Das dichte Geflecht der Zweige, an denen noch einige rotgelbe, trockene Blätter hängengeblieben waren, verbarg beinah den Boden. Die drei Flüchtigen mußten vollkommen unsichtbar sein.
»Jetzt brauchen wir bloß noch etwas Geduld«, meinte Bruder Etienne ruhig, an den knorrigen Stamm gelehnt. »Ich werde die Gelegenheit benutzen und für den tapferen Jungen den Rosenkranz beten. Ich habe so eine Ahnung, daß er Gebete brauchen kann, auch wenn er nicht daran glaubt.«
Cathérine versuchte, es ihm nachzutun, doch ihr Herz war schwer vor Angst, und ihr Geist folgte Gauthier durch den Wald. Sie wagte nicht, sich auszudenken, welchen Prüfungen sie ausgesetzt wäre, wenn dem Normannen etwas zustoßen würde. Er war ihr jetzt teuer, nachdem er kraft seiner Hingabe und Treue einen Teil ihres Herzens erobert hatte. Wie Sara war er alles, was sie mit der Vergangenheit verband. Seine ruhige Kraft, sein klarer und heller Verstand waren beruhigende Bollwerke gegen das Leben und den Schmerz. Und die junge Frau fühlte sich seltsam entblößt und zerbrechlich, seitdem die hohe Gestalt zwischen den Stämmen verschwunden war.
»Gib, mein Gott, daß ihm nichts geschieht!« betete sie still, den Himmel durch die Zweige suchend. »Wenn du mich meines letzten Freundes beraubst, was bleibt mir dann noch?«
Der Lärm eines reitenden Trupps, klirrender Waffen, menschlicher Stimmen, untermischt mit Hundegebell, näherte sich. Anscheinend hatten die Leute Villa-Andrados den Trampelpfad entdeckt. Bruder Etienne und Sara bekreuzigten sich hastig.
»Da sind sie«, flüsterte der kleine Mönch. »Sie sind da …«
Cathérines Blick glitt wieder zum Himmel. Kein Zweifel: Die Nacht verblaßte schon leicht. Der Tag würde anbrechen. Der Wald regte sich mit unmerklichen Geräuschen, Rascheln und anderen Lauten, die ankündigten, daß er bald erwachen würde.
»Vorausgesetzt, daß …«, begann sie.
Aber sie hielt inne, den Arm Bruder Etiennes packend und drückend. Unter den Bäumen sah sie den Helm eines Bewaffneten schimmern. Die dicke Schneedecke dämpfte die Schritte der Männer, aber die Zweige knackten, wenn sie vorübergingen. Mit großen Degenhieben machten sie sich den Weg frei.
Die Soldaten gingen langsam, sehr langsam weiter, die Nase auf dem Boden: zwanzig Bogenschützen zu Fuß, die Waffe über der Schulter, hinter ihnen zehn Reiter. Es waren Kastilier, und Cathérine verstand ihre Sprache nicht. Aber es wurde allmählich immer heller, und sie konnte schon die olivfarbenen, denkbar beunruhigenden Gesichter mit den lang ausgezogenen schwarzen Schnurrbärten unterscheiden. Mit Entsetzen sah sie, daß einer der Reiter am Sattelbogen einen Rosenkranz aus menschlichen Ohren trug, und unterdrückte einen Schrei. Als fühlte er ihre Anwesenheit, hielt der Mann genau unter der großen Eiche an und stieß einen heiseren Ruf aus. Ein Soldat eilte herbei. Der Reiter sagte etwas zu ihm, und Cathérines Herzschläge setzten aus. Aber der Mann mit der abscheulichen Trophäe wollte nur, daß man den Sattelgurt seines Pferdes fester schnallte, und ritt, nachdem dies geschehen war, weiter. Einige Augenblicke später war niemand mehr unter dem Baum. Ein dreifacher Seufzer entrang sich den Flüchtigen. Bruder Etienne wischte sich über die trotz der Kälte schweißtriefende Stirn und schob seine Kapuze zurück.
»Mein Gott, was habe ich Angst gehabt!« seufzte er. »Bewegen wir uns noch nicht!«
Sie warteten eine Weile, gemäß den Instruktionen, die Gauthier ihnen gegeben hatte. Als sich im Wald nichts mehr hören ließ als der ferne Schrei eines verspäteten Auerhahns, streckte der Mönch seine erstarrten Glieder, gähnte, um die Kinnlade zu lockern, und warf seinen Gefährtinnen ein ermutigendes Lächeln zu.
»Ich glaube, wir können jetzt hinuntersteigen. Diese guten Leute haben den Wald so schön zertrampelt, als sie ringsherum das Unterholz niederhackten, daß unsere Spuren uns wohl kaum verraten werden.«
»Es sieht ganz so aus«, sagte Cathérine und begann, sich von Ast zu Ast hinunterzulassen. »Aber werden wir unsere Richtung finden?«
»Vertraut mir. Zufällig kenne ich dieses Land gut. In meiner Jugend habe ich einige Monate in der Abtei Saint-Géraud d'Aurillac verbracht. Wenn wir direkt auf die Sonne zugehen, müssen wir auf die Priorei Vezac stoßen, wo wir ein wenig Rast machen werden. Die Nacht setzt gegenwärtig früh ein. Sobald sie angebrochen ist, machen wir uns
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