Ehrensachen
I
Dies ist meine erste Erinnerung an Henry: Ich stehe an der Tür zu einem der drei Schlafzimmer in der Erdgeschoßwohnung des Harvard-College-Studentenheims, meiner neuen Unterkunft. Ein langer, schlanker, rothaariger Junge, den ich nur von hinten sehe, lehnt sich aus dem geöffneten Fenster und winkt jemandem zu. Er hat meine Schritte gehört, dreht den Kopf und sagt, komm, schau dir das an. Das Mädchen, diese Schöne, wirft mir Kußhände zu. Ich habe sie noch nie gesehen. Sie muß verrückt sein.
Ich ging zum Fenster. Und richtig, kaum drei Meter weiter stand ein Mädchen auf dem Rasen, winkte und warf Kußhände in Richtung unseres Fensters. Zwischendurch verzog sie den breit und rot geschminkten Mund und lachte übers ganze Gesicht. Sie trug ein helles Tweedkostüm, dunkelgrüne Strümpfe und ein Tirolerhütchen mit einer kleinen Fasanenfeder. Ein paar Schritte entfernt von ihr sah ich eine Dame in mittleren Jahren mit dunklerem Tweedkostüm und einem breitkrempigen braunen Hut. Irgend etwas an ihrem Aussehen – der Hut? der Hauch von Hochmut und Vornehmheit, der sie umgab? – ließ mich an Ingrid Bergman in Casablanca vor der abflugbereiten Maschine nach Lissabon denken. Auch wegen der Kleidung der beiden nahm ich an, die Dame müsse die Mutter des Mädchens sein.
Mehrere Studenten blieben auf dem Gehweg stehen, der diagonal zur entfernten Ecke der Widener-Bibliothek führte, und gafften. Weder der Zirkus, den ihre Tochter aufführte, noch das Publikum, das sie damit anzog, schienen die Mutter zu stören. Aber nach ein paar Minuten sagte sie doch etwas, so leise, daß wir es nicht hören konnten. Das Mädchenschickte noch eine Kußhand und warf die Arme in gespielter Verzweiflung hoch. Dann schlenderten sie weiter.
Ich bin verliebt, rief der rothaarige Junge. Ich möchte mich ihr zu Füßen werfen.
Tu’s doch, erwiderte ich, nur halb im Scherz. Es ist noch nicht zu spät. Wenn du jetzt sofort aus dem Fenster springst, kannst du sie einholen, du mußt nicht mal rennen.
O nein, jammerte er, das kann ich nicht. Warum muß das heute passieren, ich bin doch gar nicht vorbereitet.
Keine Spur von Ironie schwang in seiner Stimme mit. Ich hätte das Thema nicht weiter verfolgen sollen. Statt dessen erklärte ich ihm, eine förmliche Liebeserklärung würde vielleicht verfrüht erscheinen, aber das Mädchen auf eine Tasse Kaffee am Square einzuladen, könne nicht schaden.
Er schüttelte unglücklich den Kopf. Das wage ich nicht, sagte er. Siehst du nicht, wie fabelhaft sie ist? Penthesilea in Tweed! Nur der Sohn des Peleus kann sie zähmen, sonst keiner. Ich bin nicht mal ihres Hohns würdig.
Sein Gesicht war eine Maske der Mutlosigkeit.
Vielleicht habe ich die Achseln gezuckt. Diese Geste oder mein Gesichtsausdruck müssen ihm klargemacht haben, daß ich ihn für übergeschnappt hielt. Er zwang sich zu einem unbestimmten Lächeln und sagte, du mußt einer von meinen Mitbewohnern sein. Ich bin Henry White … aus New York.
Ich hatte schon mit New Yorkern zu tun gehabt, vor allem in der Schule, obwohl auch eine ganze Reihe von New Yorker Familien Sommerhäuser in den Berkshires hatten, in und um Lenox, wo meine Eltern und ich wohnten, oder in den Nachbarorten Stockbridge, Great Barrington und Tyringham. Aber keiner von ihnen klang wie dieser Kerl. Er sprach nichts falsch aus. Auffallend war etwas anderes: Wenn er sich nicht gerade aufregte, wie bei seiner Peleus-Geschichte, redete er ungewöhnlich langsam, sehr deutlich und an den Worträndern schwerfällig, so als ob er einen trockenen Mund hätte. Ich überlegte, ob er vielleicht Ausländer sei, aber falls er einen Akzent hatte, konnte ich ihn nicht identifizieren. Wie Ausländer sprechen, wußte ich damals nur aus dem Kino und durch die französische Familie in der kleinen Stadt nördlich von Paris, bei der ich gerade den Sommer über gewesen war. Daß Henry White aus New York keinen französischen Akzent hatte, war ganz klar.
Ja, ich sei sein Mitbewohner, Sam Standish, sagte ich und betrachtete Henry genauer. Seine Kleidung war ein Fehlgriff; sie schien nagelneu zu sein, und Jacke und Hose hatten eine merkwürdige Farbe. Davon abgesehen sah er gut aus.
Ist Sam die Kurzform von Samuel? fragte er mich ernsthaft. Als ich bestätigte, daß es sich so verhalte, nickte er.
Da ich noch nicht zu Mittag gegessen hatte, fragte ich ihn, ob er mit mir am Square ein Sandwich essen würde. Er sagte, er sei schon in der Mensa gewesen. Ich ging allein.
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