Cedars Hollow (German Edition)
Kopf. Bitte nicht!
Ich hielt mir die Ohren zu, doch es half nichts. Ihre Sti m me war in mir, und ich fühlte mich, als würde ich selbst einen Kampf auf Leben und Tod ausfechten. Genauso, wie sie es getan hatte.
Sie war ermordet worden. Ganz Cedars Hollow wusste d a von. Man hatte sie mit blutverschmierter Kehle gefunden, und bis jetzt hatte die Polizei nicht herausgefunden, was genau g e schehen war. Der Täter hatte keine Spuren hinterlassen, und es gab kein Motiv. Raubmord hatte die Polizei ausgeschlossen, denn meiner Mutter war nichts g e stohlen worden, weder ihre Papiere, noch Geld.
Wie jeden Abend, wenn ich allein war, kamen irgendwann die Tr ä nen, und die Schreie meiner Mom hallten weiterhin in me i nem Kopf wider, als hätte ich sie ausgestoßen. Mein Körper wurde von Wei n krämpfen geschüttelt, die erst abebbten, als Erschöpfung sich auf mich herabsenkte.
Rabe und Wolf
D er nächste Tag war schlimmer als der vorige. Meine Mitsch ü ler gingen mir aus dem Weg, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Einzig Joanne blieb bei mir, aber wie gestern redete sie nur wenig mit mir. Wenn hinter meinem Rücken geflüstert wurde, kam ich mir vor wie eine Kuriosität. Es machte mich nervös.
Und trotzdem war es nur ein ganz normaler Dienstag, und alles nahm seinen üblichen Lauf. Die Welt war nicht untergega n gen, und die Zeit war nicht stehen geblieben. Es war schlimmer. Während ich abgekapselt in meiner Trauer gefangen war, hörte ich die anderen Schüler fröhlich plappern und kichern, und es kam mir so vor, als lachten sie über mich.
Mr. Lewis, unser Mathelehrer, sammelte unsere Hausaufg a ben ein und gab uns die korrigierte Klausur zurück, die wir vor drei Wochen geschrieben hatten. Ich erinnerte mich sehr genau an diesen Tag, an dem noch alles gut gewesen war. Während meine Gedanken a b schweiften, bekam ich nur am Rande mit, dass Mr. Lewis sich b e reits daranmachte, uns neue Hausaufgaben aufzuhalsen.
Wie konnte das Leben für alle anderen so normal weitergehen, während ich mich fühlte, als wäre ich eine Gefangene, als hätte das Unglück, das über mich hereingebrochen war, mich zu Eis erstarren lassen?
Die Mittagspause war der schlimme Höhepunkt des Tages. Joanne und ich saßen gerade in der Cafeteria und aßen lustlos Würstchen mit Kartoffelbrei, die es heute zu essen gab, als ich Adam, einen meiner Mitschüler, bemerkte. Er schlenderte lässig grinsend in Richtung unseres Tisches.
„Na, Willems?“, fragte er. „Wie geht’s denn so?“
„Lass sie in Ruhe, Adam“, sagte Joanne grob. In letzter Zeit re a gierte sie jedes Mal, wenn sie ihn sah, regelrecht allergisch.
Ich hätte nie den Mumm gehabt, ihn so abblitzen zu lassen, und war Joanne dankbar dafür, dass sie es getan hatte. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, waren seine aufdringl i chen Versuche, mich zu einem Treffen mit ihm zu bewegen.
„Hättest du Lust, nach der Schule mit mir ein Eis essen zu gehen?“ Adam sah mich erwartungsvoll an und ignorierte Joanne vollko m men.
Ich wich seinem Blick aus und schwieg. Wann würde er endlich damit aufhören? Bisher hatte ich jedes Mal, wenn er mich zu etwas eingeladen hatte, abgelehnt. Warum verstand er nicht, dass ich kein Interesse daran hatte, mich mit Jungs zu treffen?
„Tut mir leid, aber ich hab keine Zeit“, murmelte ich.
Adam sah mich enttäuscht an, dann zuckte er mit den Schu l tern. „Schade. Aber vielleicht ein andermal?“
„Sie hat kein Interesse“, sagte Joanne an meiner Stelle. „Und jetzt lass uns ins Ruhe.“
„Schon gut, schon gut.“
Adam hob entschuldigend die Hände, grinste dabei allerdings schon wieder. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein strähniges Haar und starrte mich dabei an, als wäre ich ein toter Gegenstand, den man unverhohlen mustern konnte. Ich kam mir vor wie ein Tier im Käfig, während der Blick seiner Augen über mein Gesicht glitt und es einer Prüfung unterzog, die sich meinem Verständnis entzog.
„Ich hasse ihn“, sagte Joanne mit Inbrunst, nachdem er endlich g e gangen war.
„Ich weiß.“ Zum ersten Mal seit Wochen schlich sich ein eh r liches Lächeln auf meine Lippen. Es fühlte sich seltsam an, weil ich so lange nicht mehr gelächelt hatte – ein Wunder, dass meine Gesichtsmu s keln noch nicht abgestorben waren.
Ich bemerkte, dass meine Reaktion Joanne überraschte, doch sie hatte sich im Bruchteil einer Sekunde wieder unter Kontrolle und erwiderte: „Er sollte dringend mal
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