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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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väterlich daherkommenden, aber doch eigentlich auf heimtückische Weise
vernichtenden Rezension kein Echo darauf gegeben. Wann immer ihm der
Gedichtband in den Sinn kam, von dem nicht mehr als zweihundertfünfzig
Exemplare verkauft worden waren, musste er an jenen heuchlerischen,
erniedrigenden Artikel denken, und manchmal hatte er sich schon gefragt, ob er
dessen Urheber, den er einmal in einer Kneipe gesehen hatte, vielleicht
unwillentlich verärgert hatte, doch da die Nachforschungen in dieser Hinsicht
nichts ergaben, musste er sich damit abfinden, menschlich wie künstlerisch
versagt zu haben, und wenn dieser düstere Gedanke, den er seit Monaten mit sich
herumtrug, ihn allzusehr bedrückte, dann galt, wie an jenem Tag, sein Sinnen
und Trachten nur noch den abendlichen Ausflügen nach Beyoğlu. Man schrieb
März 1938, und er war achtundzwanzig Jahre alt. Allmählich musste er ernsthaft
darüber nachdenken, ob er seinem einst gefassten Beschluss zum Thema Dichtkunst
und Selbstmord die Treue halten sollte.
    »In zwei Jahren bin ich dreißig!« Er
betrat seine Stammkneipe. Um niemanden grüßen zu müssen und sich auch sonst zu
keinem der üblichen Kneipenrituale hinreißen zu lassen, setzte er ein möglichst
abweisendes Gesicht auf. Der Kellner stellte ihm seinen Rakı und seine
Kichererbsen hin, und ohne auch nur aufzusehen begann Muhittin zu trinken.
    Achtundzwanzig war er also. Und obwohl
er von seinem Dichtertum enttäuscht war, fand er doch keine andere Zuflucht als
in Gedichten und in Beyoğlu. Obwohl auch Beyoğlu ihn abzustoßen
begann. Er hörte, was hinter ihm und an den Nebentischen geredet wurde. Da
erzählte etwa ein Journalist, den er an der Stimme erkannte, einer ihren losen
Reden nach nicht sehr achtbaren Frau, wie er jemanden zusammengestaucht habe.
Und am gleichen Tisch schimpfte jemand über einen anderen, den er immer wieder
als »Gierschlund« bezeichnete. Weiter hinten plauderte jemand aus dem
Nähkästchen: Jener Politiker, den er seit jeher bestens kenne, sei in der
Kindheit eine traurige Figur gewesen. Nicht nach Beyoğlu, sondern in die
bescheidenen Kneipen in Beşiktaş hätte er gehen sollen, dachte sich
Muhittin, doch von Beşiktaş hatte er es weiter zu den Frauen.
Außerdem traf er sich dort ja immer mit den Kadettenschülern.
    Er trank seinen Rakı aus,
zahlte und stand auf. »Mit Dreißig bringe ich mich um!« dachte er. Beim
Hinausgehen traf er einen älteren Bauunternehmer, der oft in sein Ingenieurbüro
kam. Jener lächelte ihn freundschaftlich an, und ohne etwas zu denken, nur weil
man sich gegenüber solch älteren Herrschaften eben so verhielt, lächelte Muhittin zurück. Danach
merkte er, dass er sich wegen des Gefühls, das in ihm aufkam, bestrafen wollte,
und ihm fiel wieder ein, was Ömer einmal zu ihm gesagt hatte: »Nie wirst du
dich umbringen!«
    Er war wieder draußen auf der
Hauptstraße. Der schnell hinuntergekippte Alkohol schoss ihm ins Blut.
Gesichter zogen vorbei, fahl beleuchtet von Schaufenstern, Kinoreklamen und
Kneipenlampen. »Soll ich mich mit Dreißig umbringen?« Er bog in eine
Seitenstraße ab. Jedesmal, wenn er hierherkam, packten ihn wieder der gleiche
Ekel und die gleiche Furcht, und er sagte sich, wie hässlich doch das rote
Licht war, dass sich in den Pfützen spiegelte, wie abscheulich dieses
Beyoğlu und wie armselig und feige er selbst, und er meinte immer wieder,
er werde zu Boden stürzen. Er sah das alte dreistöckige Haus. Wie immer betrat
er es mit zur Schau gestellter Gleichgültigkeit, als käme er gerade nach Hause.
Die alte Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte, sah er mit leeren Augen an, ging
dann die Treppe hinauf und sah oben die Frauen sitzen, sah auch, wie sie ihn
ansahen, sah, dass eine von ihnen ein erfreutes Gesicht machte und ihm mit
einem Blick zuzwinkerte, der lüstern wirken sollte, sah die anderen lachen;
denken wollte er nichts. Nichts denken, nur den Alkohol noch schneller ins Blut
haben wollte er. Er gab einer von ihnen Geld, stieg eine weitere Treppe hinauf,
betrat ein rotbeleuchtetes, luft- und fensterloses schmutziges Zimmer. Wieder
eine andere Frau bedeutete ihm zu warten, er gab ihr mit gefühllosem Blick ein
Trinkgeld und setzte sich in den Sessel neben dem Bett. »Gleich kommt sie!« dachte
er.
    Er lehnte den Kopf zurück, ließ
seine kurzen Arme herabhängen und horchte in sich hinein wie ein alter Mann,
der eine Herzattacke hatte. Von der hohen Decke des widerlich warmen,
stinkenden Zimmers hing eine

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