Cevdet und seine Soehne
meisten
gefallen hatten, aber sie lösten nichts in ihm aus. Er dachte über das zuvor
Erlebte nach und wollte am liebsten wieder hinaus. Wieder gähnte er; wie sehr
ihn das doch ermüdet hatte! Er blickte auf die Uhr und beschloss, sich nach dem
Mittagessen hinzulegen, doch ob Mittagsschläfchen hier wohl üblich waren? In
Istanbul wurde der Tag durch die Mahlzeiten strukturiert, nach denen er seinen
Tagesablauf einrichtete; das merkte er hier erst so richtig. Er stellte
Rousseau wieder zu den anderen Büchern zurück und zündete sich eine Zigarette
an. Dann ging er im Zimmer auf und ab und sagte sich schließlich: »Nach dem
Essen werde ich arbeiten, und zwar so richtig!« Er freute sich darüber, wie
entschlossen er war.
27
DER DICHTER IN BEYOGLU
Muhittin stieg aus der Trambahn aus. Er kam
an den öffentlichen Toiletten vorbei, und gleich würde er auf den Platz
hinausgehen. Im Ingenieurbüro hatte er sich den ganzen Tag ausgemalt, wie er abends
gemächlich auf ebenjenen Platz treten und sich die Leute anschauen würde,
genauso wie er es nun wirklich tat, und er hatte sich vorgestellt, wie er
genussvoll am Gift seiner Zigarette ziehen und in Beyoğlu herumstreifen
würde und dann irgendwo im Stehen ein Glas trinken und dann in ein Freudenhaus
gehen und schließlich ins Kino. Nun stand er am Taksimplatz, und alles dies war
greifbar nahe, und das verschaffte ihm eine ungeheure, doch irgendwie
beschämende, geradezu kindliche Freude. »Als würde ich mit meinem Vater ins
Kino gehen!« Sein Vater, der Leutnant Haydar, war strenger Muslim gewesen,
hatte aber hin und wieder mal ein Auge zugedrückt. In den paar Jahren zwischen
seiner Pensionierung und seinem Tod hatte er seinen Sohn einmal im Monat nach
Beyoğlu ins Kino mitgenommen. »Vielleicht hat er das nicht mal aus
Großzügigkeit getan, sondern weil es ihm selbst gefiel!« dachte Muhittin, aber
das half ihm auch nicht weiter. »Der Leutnant Haydar ist für den Ingenieur
Muhittin kein gutes Thema!« Ein paar Minuten später war sein Unmut vergessen.
»Mein heißgeliebtes Beyoğlu! Die vielen Menschengesichter! Den ganzen Tag
habe ich darauf gewartet. Mein schmutziges, blutiges, feiges Beyoğlu! Ich
bin Dichter! Ich sehe mir die vor Kälte ganz roten Gesichter an!« Es herrschte
eine entschlossene, konsequente Märzkälte. Manchmal fuhr ein Windstoß durch die
Straße und blies die Mantelschöße hoch. Frauen war kaum mehr unterwegs, und
wenn, dann am Arm eines Mannes. Die
würdigte Muhittin keines Blickes: Es tat zu weh, eine schöne Frau zusammen mit
einem Mann zu sehen. Vor der Agamoschee sah er dann doch eine an. Sie gefiel
ihm. Am Arm ihres Mannes ging sie sittsam dahin. Die beiden erinnerten Muhittin
an Refık und Perihan. Er musste innerlich schmunzeln: Dass Refık zu
Ömer gefahren war, hatte Muhittin von Osman erfahren, der ihn eines Tages
anrief. Er klang besorgt und verblüfft am Telefon und wollte von Muhittin
herauskitzeln, was seinen Bruder wohl zu so einer Verrücktheit getrieben hatte,
doch Muhittin hatte keine Lust gehabt, darüber zu spekulieren. Was hätte er
sagen sollen? »Dein Bruder möchte seinem Leben einen Sinn verleihen!« Oder:
»Dein Bruder bereut, dass er nicht Dichter geworden ist wie ich und dass er
sein Leben nicht irgendeiner Sache gewidmet hat. Jetzt ist er auf der Suche
nach so etwas!« Damit hätte er diesem eingefleischten Geschäftsmann weh tun
können, und er hätte sogar noch weitergehen und ihm Ratschläge erteilen können,
aber das brachte er doch nicht übers Herz. Und außerdem: Wenn er gesagt hätte,
»Dein Bruder bereut, dass er nicht Dichter geworden ist«, dann hätte er ja
nicht gesehen, wie Osman darüber errötet wäre, dass aus seiner Familie
überhaupt jemand auf solche Gedanken kam.
Muhittin erinnerte sich gern daran
zurück, wie Refık einmal gesagt hatte »Ich wäre am liebsten ein Dichter so
wie du!«. Hätte jemand anders das gesagt, etwa jemand, der es schon für
Dichtkunst hielt, wenn sein Großvater als Steckenpferd Verslein schrieb, dann
hätte er gar nicht richtig hingehört. Refık aber hatte es mit einer
Inbrunst gesagt, die Muhittin immer wieder Trost bedeutete, wurde er doch
tatsächlich von jemandem beneidet. Und Trost konnte er gut gebrauchen, denn er
musste sich sagen, dass das Leben ihn noch immer stiefmütterlich behandelte und
er als Dichter gescheitert war. Obwohl seit dem Erscheinen seines Gedichtbandes
bereits ein halbes Jahr vergangen war, hatte es in der Presse mit Ausnahme
einer
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