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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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sagen: »Nicht dich,
sondern mich!«, senkte Muhittin nur den Kopf.

28
  ZUM ZEITVERTREIB
    Draußen tobte ein Schneesturm. Der Wind
ließ die Fenster erzittern, heulte durch den Kamin und übertönte immer wieder
das Radio, so dass Herr Rudolph oder besser gesagt Herr von Rudolph sich
stirnrunzelnd vorbeugen musste, um Hitlers eifernde Worte noch zu verstehen.
Wenn diese zu maßlos wurden, um noch vermittelt werden zu können, sah Herr
Rudolph betreten auf seine Hände herunter, die auf den Knien ruhten, und
Refık wusste dann, dass der Wortschwall aus dem Radio Anlass zur Besorgnis
gab. Hitler war in Wien, und Herr Rudolph übersetzte seinen Gästen das im Radio
Gehörte. Ömer sah gähnend zu dem Schneesturm hinaus, während Refık
aufmerksam Herrn Rudolphs Mienenspiel beobachtete. Noch einmal musste Herr
Rudolph beschämt den Blick senken, dann war die Übertragung beendet. Sie hörten
die getragene Stimme eines Rundfunksprechers, dann krächzte es ein wenig aus
dem Radiogerät, dessen Empfangsstärke der deutsche Ingenieur durch eifriges
Basteln erhöht hatte, und schließlich erklang ein Walzer: An der schönen
blauen Donau.
    »Jetzt ist es also soweit!« sagte Herr
Rudolph. »Deutschland hat sich Österreich einverleibt! Und Wien hat Hitler
einen triumphalen Empfang bereitet.« In seinem tadellosen Türkisch hatte er den
beiden auch die anderen Nachrichten übersetzt: von dem nahenden Sieg der
Frankisten in Spanien, der französischen Regierungskrise und den Spannungen in
der Tschechoslowakei.
    »Und was wird jetzt passieren?«
fragte Refık.
    »Was soll schon passieren?«
entgegnete Ömer und stand auf. »Schach spielen wir! Nicht wahr, Herr Rudolph?« Und
schon holte er auch vom Schrank das Schachbrett herunter.
    »Wie Sie sehen, ist Ihr Freund eher
pragmatisch veranlagt«, sagte Herr Rudolph. »Die dunklen Wolken, die über
Europa herziehen, interessieren ihn nicht. Interessieren tut ihn allein sein
Schach …« Verlegen lächelnd setzte er hinzu: »Dem aber ich auch nicht ganz
abgeneigt bin!«
    »Spielen Sie nur, spielen Sie!«
sagte Refık. »Mir macht das nichts aus!«
    »Nur ein Spielchen!« sagte der
Deutsche und setzte sich eifrig ans Brett. Als die beiden gekommen waren, hatte
Refık noch schelmisch gesagt, ihm sei ja eigentlich nach einem Gespräch
zumute und nicht nach Schach.
    »Tja, da ist eben jemand auf eine
Revanche aus«, sagte Ömer und dachte an ihr letztes Spiel vor zwei Tagen
zurück.
    Alle zwei, drei Tage besuchten Ömer
und Refık abends den Deutschen, der sich immer sehr freute, weil er
ansonsten einsam war. Er war vor zehn Jahren in die Türkei gekommen, um an der
Eisenbahnstrecke Sivas-Samsun mitzuarbeiten. Als er danach zur Strecke
Sivas-Erzurum überwechselte, erfuhr er von Hitlers Machtübernahme und
beschloss, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Bei dieser Entscheidung
mochten auch andere Faktoren mit hineingespielt haben. Gelegentlich erwähnte
der Ingenieur, dass er sich mit seinem Vater, einem General, überhaupt nicht
verstehe und auch mit der Engstirnigkeit der Deutschen nicht mehr zurechtkomme.
Und schließlich verdiente er in der Türkei so viel Geld, dass sich eine
Rückkehr nach Deutschland gar nicht lohnte.
    Refık rückte sich einen Stuhl
an den Schachtisch heran und fragte: »Was sagten Sie gerade?«
    »Dass ich jetzt erst recht nicht
zurückgehe! Wenn die Europäer Hitler alles gewähren, was er verlangt, wird er
zwar keinen Krieg vom Zaun brechen, aber loszuwerden ist er auch nicht!«
    »Na gut, dann bleiben Sie eben
hier!« sagte Ömer. »Ich begreife sowieso nicht, wie Sie nach zehn Jahren
einfach so gehen könnten. Sie sind doch ein halber Türke jetzt!«
    »Ha, dass ich nicht lache! Sie
wollen mich doch nur zum Lachen bringen, damit ich verliere!«
    Eine Weile spielten sie schweigend.
Man hörte nur Die schöne blaue Donau und den Sturm. Auch Refık sah
unentwegt auf das Schachbrett.
    Nach zehn, zwölf Zügen führte Ömer
einen Zug sehr rasch aus, und es stellte sich heraus, dass er auf den
vorhergehenden Zug Herrn Rudolphs spekuliert und sich dementsprechend etwas
ausgedacht hatte. Herr Rudolph fluchte in einer Mischung aus Türkisch und
Deutsch vor sich hin, seufzte laut, fingerte an seiner Pfeife herum, die er nie
aus der Hand nahm, und als der Dienstbote den Tee brachte, sah er ein, dass die
Partie verloren war, und starrte nur noch verzagt auf das Brett.
    Ömer stand auf. »Wollen Sie uns
daraufhin nicht einen Cognac spendieren?« Und ohne eine

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