Cevdet und seine Soehne
Bewunderung entgegen. Es war aber noch ein anderer dort, etwa in seinem
Alter, der Muhittin recht skeptisch, ja beinahe feindselig gemustert hatte. Er
schien zu denken: »Warum bist du eigentlich nicht schon lange Nationalist?« Ihm
fielen wieder die beiden Kadetten ein, mit denen er über seine neuen
Überzeugungen noch gar nicht geredet hatte. »Da muss ich mich gut vorbereiten!«
Er musste nämlich aufpassen. Bei einer Diskussion über Hatay hatten sich Mahir
Altaylı und einer der jungen Mitstreiter gegen eine friedliche Lösung
ausgesprochen, während zwei andere meinten, es sei verkehrt, auf Kampf zu
bestehen, wenn die Region so oder so zur Türkei geschlagen werde. Muhittin war
unentschieden gewesen und hatte mehr oder weniger schweigend dagesessen und
sich mit ein paar Gemeinplätzen durchlaviert. »Inzwischen bin ich der Meinung,
dass Mahir Altaylı recht hat. Oder dass seine Ansicht zumindest bei den
jungen Leuten besser ankommt und mehr Begeisterung auslöst. Und das ist
vielleicht wichtiger, als dass sie auch stimmt.« Beim Herumgehen fiel sein
Blick auf die Schlagzeile der Zeitung auf dem Tisch. »In Hatay Ausnahmezustand
ausgerufen!« Am Vortag hatte im Parlament der Ministerpräsident darüber
gesprochen. Muhittin versuchte die Sache zu durchdenken, aber es blitzten immer
nur einzelne Aspekte davon auf, wie der Plan eines eigenständigen Staates
Hatay, die Wahlvorbereitungen, die Zusammenstöße zwischen den Volksgruppen bei
der Eintragung in die Wählerlisten. Verärgert über seine Unwissenheit in diesen
Dingen und überhaupt in nationalen Belangen, setzte er sich wieder an den
Tisch.
Vor sich hatte er die Türkische
Geschichte, ein paar Bücher von Ziya Gökalp, diverse Zeitschriften und
Artikel sowie Zeitungen des vergangenen Monats. Aufmerksam las er die älteren
Ausgaben von Ötüken, um sich einen Überblick zu verschaffen, was für
Diskussionen die Nationalisten untereinander und mit ihren Gegnern führten.
Auch in türkischen Geschichtsbüchern blätterte er viel. Wenn er Rıza Nurs
Darstellung las, stellte er sich dazu auch immer den Autor selbst vor, den er
oberflächlich und primitiv fand. Er sagte sich, dass er vielleicht eines Tages
ein weitaus fundierteres Geschichtsbuch schreiben würde. Auch hielt er sich für
um einiges intelligenter als die jungen Leute von der Zeitschrift. Aber war das
nicht gerade die Art von Überheblichkeit, der er abgeschworen hatte? Beschämt
dachte er daran zurück, wie er in der Kneipe verkündet hatte, dass er
Nationalismus für falsch halte! Da merkte er, dass er unwillkürlich schon
wieder aufgestanden war. »Aber ich habe ihm ja auch gesagt, dass ich mit meinem
Zustand selbst nicht zufrieden bin!« dachte er aufgeregt. Es wurden wieder
Erinnerungen an jene ungute Zeit in ihm wach: an die Verlobung von Ömer, an
Besäufnisse, die Kneipen von Beyoğlu, das Unwohlsein in Refıks Haus,
die Einsamkeit … »Das alles muss ich hinter mich lassen, auch das Geschwätz
meines Verstandes! Meiner Begeisterung muss ich mich überlassen, meinem
Herzen!« Dann schlug er wieder die Türkische Geschichte auf und
vertiefte sich darin.
34
DAS FESTBANKETT
»Willkommen, Herr …« rief Kerim Naci aus, als
wollte ihm der Name seines Gastes nicht so recht über die Lippen. »Herr
Rudolph! Willkommen! Nein, nein, nehmen Sie doch hier Platz!« Sie setzten sich
an den Tisch. Nun erblickte Kerim auch Ömer. »Da ist ja unser Jungunternehmer!
Guten Abend!« Er fasste Ömer an der Hand und zog ihn zu einem kleinen,
schnauzbärtigen Herrn hin. »Dieser junge Mann hier ist mit der Tochter unseres
Parlamentskollegen Muhtar aus Manisa verlobt!«
»Ah, mit Nazli!« rief der
Schnauzbärtige. »Ein süßes, vornehmes kleines Ding! Gratuliere!«
Ömer lächelte, und der
Schnauzbärtige lächelte zurück, als wollte er sagen: »Du Schlawiner, du!« Er
war Abgeordneter von Amasya und gerade als Parteiinspekteur in den Ostprovinzen
unterwegs. Als Kerim Naci wie jedes Jahre seine Freunde sowie diverse
Bauunternehmer und Ingenieure zu einem großen Abendessen lud, sprach sich
schnell herum, dass auch jener İhsan
mit von der Partie sein würde.
»Und da haben wir noch einen jungen
Ingenieur«, sagte Kerim Naci und stellte dem Parteiinspekteur Refık vor.
Einen Satz, den Kerim Naci noch mit Blick auf Refık und Ömer angefangen
hatte, sprach er zu Ende, während er schon einen anderen Ingenieur anlächelte,
und dann zog er İhsan ans andere Ende des Tisches, wo es neue Leute
vorzustellen
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