Cevdet und seine Soehne
sich endlich wieder einmal satt zu essen und satt zu sehen. Er
brachte dem Gesprochenen das übliche oberflächliche Interesse entgegen,
quittierte es hin und wieder mit einem unverbindlichen Lächeln, bediente sich
dann noch mal beim Reis und saß überhaupt einfach da wie jemand, der eine
langwierige, anstrengende Arbeit erledigt hat und sich nun guten Gewissens an
einen reichlich gedeckten Tisch setzen kann. Dabei wusste Ömer, dass Refık
in letzter Zeit alles andere als gut schlief, weil er mit seinem
»Entwicklungsprojekt« nicht vorwärtskam und sich Sorgen um seine Zukunft
machte.
Kerim Naci und İhsan hörten
einstweilen einem älteren Herrn zu, mit dem auch Ömer schon einmal zu tun
gehabt hatte. Obwohl selbst kein Ingenieur und damit eigentlich fehl am Platze,
war der Mann in eine Kontrollkommission aufgenommen worden, was sich
allerhöchstens dadurch erklären ließ, dass er über Erfahrung verfügte und von
beinahe krankhafter Gewissenhaftigkeit war. Als Neuling in der Kommission war
er zum erstenmal zu so einem Essen geladen. Dabei noch dazu einen Abgeordneten
anzutreffen, machte die Sache für ihn noch aufregender. Eifrig spulte er
herunter, was getan werden müsse, um diesem und jenem Missstand abzuhelfen,
verhedderte sich in seinen gewiss schon lange vorbereiteten Sätzen und ärgerte
sich, eine so einmalige Gelegenheit nicht richtig nützen zu können.
Als er seine Ausführungen beendet
hatte, wandte sich İhsan an den jungen Mann, der neben dem älteren Herrn
saß. »Sie sind doch Ingenieur, nicht wahr? Was würden Sie in so einem Fall
tun?«
»Ach, wenn alle Verzeichnisse und
Tabellen schon einen Monat im voraus erstellt werden, kann es zu solchen
Problemen erst gar nicht kommen.«
»Sehen Sie?« sagte der
Parteiinspekteur, und ohne die Antwort des älteren Herrn abzuwarten, rief er
dem umherhastenden Koch zu: »Mir noch etwas Reis bitte!« Dann setzte er das
Rakıglas an seinen kleinen, unter dem Schnauzbart beinahe verschwindenden
Mund, nahm einen Schluck und sagte dann, auf den älteren Herrn schielend:
»Vertrauen Sie auf die Reformen und auf den Staat! Natürlich ist noch nicht
alles ohne Fehl und Tadel, aber wer nur immer herumkrittelt, spielt den Feinden
der Reformen in die Hände. Vielmehr sollte jeder, der fürchtet, Fehler zu
begehen, eng mit dem Staat zusammenarbeiten. Und viel wichtiger ist ja momentan
die Sache mit Hatay …«
Es ging am Tisch immer fröhlicher
und lauter zu. Allmählich standen die in der Tischmitte geführten Gespräche
nicht mehr im Zentrum des Interesses, sondern die Leute wandten sich ihren
Tischnachbarn zu. Hin und wieder hörte man Kerim Nacis dröhnende Stimme, doch
die Gäste ließen sich davon in ihren Plaudereien nicht stören. An einem
Tischende saßen die Frauen zweier dänischer Ingenieure. Sie hatten sich
nebeneinandergesetzt, um sich auf dänisch unterhalten zu können, und nippten
vorsichtig an ihrem Rakı. Die Männer am anderen Tischende sahen immer
wieder zu den Frauen hinüber, rauchten zum Rakı ihre
Zigaretten, horchten auf ihre Gesprächspartner, ließen aber in unbeobachteten
Momenten gleich wieder ihre Blicke zu den Frauen schweifen, worauf sie dann
wieder sinnierend an ihren Zigaretten zogen. Ömer sah ihnen an, dass sie an
jene Ausländerinnen dachten, an ihr eigenes Leben und ihre Wünsche, und als er
mitbekam, wie einem der Männer beim Blick auf die Frauen regelrecht die
Gesichtszüge entgleisten, fiel ihm plötzlich Nazli ein, was ihn verblüffte und
auch ein wenig ärgerte. Er sprach nun dem Rakı noch mehr zu, so wie jene
Männer, zündete sich wieder eine Zigarette an und lauschte einem der Gespräche
um ihn herum.
Die Grüppchen, die sich gebildet
hatten, waren von zweifacher Art. Zum einen saßen Männer beisammen, die noch
sieben, acht Jahre zuvor einfache Arbeiter, frischgebackene Ingenieure oder
kleine Beamte gewesen waren und es danach als Unternehmer im Eisenbahnbau zu
beträchtlichem Reichtum gebracht hatten. Als das Namensgesetz in Kraft getreten
war, hatten sie sich Familiennamen wie Demirağ – »Eisennetz« –, Yolaçan – »Wegbereiter« –, Demirbag – »Eisenbund« – oder Kayadelen – »Felsdurchbohrer« – ausgesucht. Sie verdankten ihren Wohlstand
ihrer Intelligenz und ihrem unternehmerischen Einsatz, aber irgendwie war ihnen
doch selber suspekt, dass man innerhalb weniger Jahre so reich werden konnte,
und deshalb traten sie sehr vorsichtig auf. Es sollte nur ja niemand mit dem
Eisenbahnbau, so wie er
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