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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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»Kampf« dachte, musste er
schmunzeln. »Ich bin doch immer noch der alte Muhittin! Da habe ich wieder
einen Tummelplatz gefunden!« Dann sah er sich die Zeitschriften an, die auf
seinem Schreibtisch herumlagen, und schämte sich sogleich seiner Gedanken. Er
hörte die Stimme Mahir Altaylıs: »In Hatay werden unsere Rassegenossen
unterdrückt, und Sie denken hier solche Dinge!« Er setzte sich wieder an den
Tisch. »Ich war ein schlechter Mensch. Ich muss von diesem hässlichen Egoismus
loskommen und meinem Herzen einen Stoß geben!«
    Er brauchte nur mit seinem
Herzenseifer die widerliche Verstandesfunzel auspusten, dann konnte er in der
Volksgemeinschaft aufgehen und sich von seinen Sünden reinigen. Manchmal dachte
er, dass er jahrelang regelrecht in der Sünde gebadet hatte, und ärgerte sich
dann über sich selbst. Viel öfter aber dachte er an den allgemeinen Abscheu
zurück, den er oft empfunden hatte. Nun hingegen konnte er seinen Abscheu auf
ein Ziel ausrichten, auf die Franzosen etwa, die in Hatay unsere Landsleute
niedermetzelten, und auf die Araber, die uns regelmäßig in den Rücken fielen
… Aber halt, noch mehr zürnte er den Juden und den Freimaurern. An der
Ingenieurhochschule hatten sie einen jüdischen Kommilitonen gehabt, auf den
ersten Blick ein hilfsbereiter Junge, der bei Prüfungen die anderen abschreiben
ließ und Faulpelzen auch seine Hausarbeiten bereitwillig zur Verfügung stellte.
Erst jetzt kam Muhittin dahinter, dass das alles nur Verstellung gewesen war.
Und die Freimaurer hatten zwar ihre Logen geschlossen und ihr Vermögen den
kemalistischen Volkshäusern vermacht, aber im geheimen konnten sie gut und
gerne noch weiterwirken. Seit jeher hatte er Refıks Bruder Osman im
Verdacht, ein Freimaurer zu sein. Bei dem passte alles zusammen: der
geschäftliche Erfolg, das selbstgefällige vornehme Getue, die furchtbar
gepflegten Hände und diese Art zu reden, bei der man immer gleich Seifengeruch
in der Nase hatte. Dann waren da noch die Albaner und die Tscherkessen, laut
Mahir Altaylı gefährliche Leute, weil sie den Staat infiltrierten. Ferner
die Kurden und natürlich die Kommunisten.
    Muhittin gähnte herzhaft. »Ich muss
wohl verrückt werden! Was ist eigentlich los mit mir? Ich werde also
Nationalist. Ganz bin ich es noch nicht, aber bald. Wie kommt das überhaupt?«
Nach der Begegnung mit Mahir Altaylı hatte er noch ein Glas Rakı
getrunken und war dann schnurstracks nach Hause gegangen anstatt ins Freudenhaus.
»Genau, daran liegt es! Wäre ich ins Freudenhaus gegangen, dann hätten Mahirs
Worte ihren Zauber verloren, ja wären wertlos geworden. Dann wäre ich auch
nicht zu der Zeitschrift gegangen und wäre überhaupt noch der alte. Und warum
bin ich nichts ins Freudenhaus? Weil ich, nun ja, zu besoffen dazu war!« Über
diesen Schluss war er doch sehr verblüfft. Nein, das war einfach zu unsinnig.
»Gewiss ist nur das eine: dass ich nicht mehr so wie früher sein kann!« Aber
hatte nicht im vergangenen Herbst Refık zu ihm das gleiche gesagt? »Und
was treibt der jetzt? Dorfentwicklung! Was das nun soll! Um die Entwicklung der
türkischen Nation sollte er sich kümmern! Aber das fällt ihm natürlich nicht
ein; er ist ja auch kaum ein richtiger Türke, in seiner
ganzen schnöseligen Art. Und der Bruder auch noch Freimaurer!« Erschrocken hob
er den Kopf: Auf wen seine Wut sich da plötzlich ausdehnte … In dem Regalfach
gegenüber sah er das Foto seines Vaters, und da merkte er, dass er auch ihm
gegenüber seine Meinung änderte. Er sah seinen Vater nun nicht mehr als armen
Tropf, der nie etwas begriffen und sein Leben vergeudet hatte, sondern als
Helden und überzeugten Kämpfer. Nur schade, dass er am Befreiungskrieg nicht
mehr teilgenommen hatte. Aber dachte er nun wirklich und wahrhaftig so, oder
redete er sich das nur ein? »Kommt aufs gleiche hinaus! Auf jeden Fall werde
ich mich daran gewöhnen, auf mein Herz zu hören, in der Gemeinschaft aufzugehen
und mein modriges Bewusstsein durch Enthusiasmus zu ersetzen!« Aufgeregt stand
er auf.
    Wie es ihm wohl ergehen würde, wenn
er mal wirklich Nationalist war? »Es wird Schluss sein mit dieser dauernden
Unzufriedenheit. Und so ein Blödsinn wie der Selbstmord mit Dreißig wird mir
gar nicht mehr einfallen. Ich werde ein geordnetes, erfülltes Leben führen! Und
werde geachtet sein!« Letzteres sagte er sogar laut. Die jungen Kerle, die er
bei der Zeitschrift kennengelernt hatte, brachten Mahir Altaylı
regelrechte

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