Cevdet und seine Soehne
sie gesehen wurden,
küsste er sie. Dann küsste er auch Melek und fragte: »Wie kommt ihr denn hin?
Nicht dass sie friert!«
»Die friert schon nicht! Die frische
Luft tut ihr gut, wo sie doch den ganzen Tag im Zimmer ist. Ich gehe zu Fuß,
ist ja nicht weit.«
Aus Angst, dass sie sich bei Nigân
ansteckte, ließen sie Melek seit zehn Tagen nicht aus dem Zimmer. Schuldbewusst
dachte Refık: »Weil wir auch alle so auf einanderleben!« Er wollte noch
etwas sagen, hielt Perihan, die schon losgehen wollte, noch an der Hand fest und
umarmte Melek. Ohne Perihan anzusehen, blickte er fest in die wachen Augen des
kleinen Mädchens und sagte dann leise: »Das alles, meine ganze Grobheit und
Unentschlossenheit, die dir so zusetzen, dieser schlimme Zustand, in dem ich
bin, rührt nur von einem her, und zwar will ich, dass … Ich will, dass dieses
Mädchen da, unsere Tochter, für den Fall natürlich, dass mal ein aufgeweckter,
intelligenter und gebildeter Mensch aus ihr wird, dass sie uns dann keine
Vorwürfe macht. Dass sie nicht auf mein Leben und auf das, was wir gemacht
haben, voller Verachtung blickt und uns als schlechte Menschen betrachtet!«
Erst zum Schluss konnte er Perihan
anschauen, und diese wandte sich ihrer Tochter zu: »Wenn unsere Melek
mal eine große Dame ist, dann wird sie natürlich intelligent und gebildet
sein!« sagte sie lachend und küsste das Kind.
»Eine Dame muss sie nicht unbedingt
werden«, sagte Refık.
»Soso, warum denn nicht?« erwiderte
Perihan und tat so, als würde sie im Namen Meleks protestieren. »Na ja, das mit
der Bildung und der Intelligenz sehen wir dann schon, aber auf jeden Fall wird
es mal ein Riesenmädchen!« Sprach’s und ging hastig auf das Gartentor zu.
Refık sah den beiden nach, bis
er sie aus den Augen verlor. Dann ging er wieder hinein. Auf dem Treppenabsatz
blieb er stehen, weil er durch den Türspalt seine Mutter und Osman im
Wohnzimmer zusammensitzen sah, und ging hinein.
Osman redete auf seine noch immer
fiebrige Mutter ein, doch die gab sich möglichst unbeteiligt und sah
absichtlich nicht ihn an, sondern zum Fenster hinaus. Als sie Refık
erblickte, wirkte sie erfreut.
»Ist Perihan etwa schon weg?«
»Ja.«
»Ach schade, ich wollte ihr doch
schöne Grüße an ihre Eltern bestellen! Warum hat sie denn nicht Bescheid
gesagt?« Zu Osman sagte sie: »Und wohin ist Nermin?«
»Zu einer Freundin!«
»Zu welcher?«
»Was weiß ich, Mama! Jetzt
beantworte doch lieber mal meine Frage!«
Nigân verzog schweigend das Gesicht.
Sie sah Refık an und sagte: »Setz dich doch!«
Osman hoffte bei Refık auf mehr
Verständnis zu stoßen. »Wir reden über die Sache mit dem Apartmenthaus! Du
weißt ja, dass sie gerade das Nachbargrundstück vermessen. Yılmaz hat
nachgefragt, und ich habe mich auch erkundigt: Die lassen ein Apartmenthaus
bauen. Und Tacettin von gegenüber macht es genauso. Wir sollten dieses oder
spätestens nächstes Jahr …«
»Weder nächstes Jahr noch sonst
irgendwann!« unterbrach ihn seine Mutter. »Euer Vater hat verfügt, dass dieses
Haus hier niemals abgerissen wird.«
»Aber das ist doch Unsinn! Papa hat
nie so etwas zu uns gesagt!«
»Zu mir schon! Wie oft muss ich euch
seine und meine Einstellung dazu noch erklären! In einem Haus lebt man
zusammen, wohnt man zusammen, und man kümmert sich umeinander! In meiner Familie
hat man seit jeher in großen Häusern gewohnt, nicht in aufeinander gestapelten
Schachteln. Man muss sich umeinander kümmern und sich lieben, und man darf
nichts voreinander verheimlichen. So und nicht anders muss es sein! Falls wir,
Gott behüte, einmal auseinandergerissen werden, dann möchte ich, dass wir nicht
in einzelne Schachteln ziehen, sondern uns weiter umeinander kümmern. So soll
es sein!«
Osman zeigte auf Yılmaz, der mit
Eimer und Feuerzange kam und an dem großen Ofen hantierte. »Aber dieses Haus
lässt sich nicht beheizen! Deswegen hast du doch deine Grippe.«
»Nicht aufgepasst habe ich auf mich,
deshalb bin ich krank. Osman, ich bitte dich inständig, bring dieses Thema
nicht mehr aufs Tapet!«
Sie hatten einander nichts mehr zu
sagen, doch ihre angespannten Nerven mussten sich irgendwie abreagieren, so
dass sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf den armen Yılmaz konzentrierte. Der
spürte, während er mit der Zange im Ofen herumstocherte, die Blicke aller so
penetrant auf sich ruhen, dass seine Bewegungen, fatal denen des Vaters
ähnelnd, allmählich fahrig wurden.
Refık dachte: »Wie sehr
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