Cevdet und seine Soehne
erklärte er, er selbst sei einst auch einmal verlobt
gewesen.
Ömer musste dabei an Nazli denken,
aber ganz ohne Unwillen. »Wie weit ich jetzt weg bin!« Freundlich lächelte er
den älteren Herrn an, der fortwährend redete, als wollte er damit verhindern,
dass sein junger Mitreisender sich in unerquicklichen Gedanken verlor. Da Ömer
an diesem schönen Tag keine Lust hatte, sich irgend etwas zu widersetzen,
lauschte er zustimmend den für einen Beamten recht ungewöhnlichen Ansichten und
Beschwerden des Mannes über die Eisenbahn, die moderne Zeit und den Fortschritt
im Lande. Wie sorglose Menschen es tun, gähnte er hin und wieder herzhaft und
stöhnte dabei jedesmal zum Abschluss. Der Zug durchfuhr oft lange Tunnels und
fuhr über Brücken von der einen Flussseite auf die andere, und bei jeder
Tunneleinfahrt verstummte der Mann und nahm sein Erzählen erst danach wieder
auf. Wenn Ömer gerade nicht am Thema interessiert war, schweiften seine
Gedanken ab. »Tja, die Natur … Verschneite Hügel und Felsen … Gut, dass ich
gekommen bin … Gut, dass es dort was zu verkaufen gibt …«
Als der Zug am Bahnhof von Kemah
hielt, wurde er von Kindern und von Neugierigen umstanden. Ömer sah die an die
Hügel geschmiegten weißen Häuser. »Wie still es hier ist!« Ein Junge rief
etwas, ein Pfiff ertönte, und sobald der Zug anfuhr, fing der ältere Herr
wieder zu erzählen an. Etwa zwanzig Minuten später griff Ömer zu seinem Koffer,
verabschiedete sich von dem Mann und stellte sich in den Durchgang zwischen den
zwei Waggons, wo er hin und her geschüttelt wurde. »Gestern noch in Ankara und
heute hier!« Aber der Zug wollte und wollte nicht halten. »Ich war in Ankara,
in Istanbul, in England, ich erlebe was, ich sehe was … Ich bin reich und
ehrgeizig … Und? Ein Eroberer! Istanbul! … Da hält er ja endlich!«
Da außer ihm niemand ausstieg, hatte
er das Gefühl, der Zug habe nur für ihn gehalten. Er ging auf das Bahnhofsgebäude
zu, sah den Zug hinter einer Kurve verschwinden und merkte so richtig, dass in
dieser schneebedeckten, zwischen Berge eingezwängten Ebene nichts war als
Stille. Das Büro des Bahnbeamten war leer, desgleichen der Warteraum. Ömer trat
vor das Gebäude und sah sich um. Er erblickte ein Huhn, dann noch eines, einen
Hühnerstall und aufgehängte Wäsche, daneben einen vollen Wäschekorb. Wie
verzaubert blieb er stehen. Die bunte Wäsche hing so reglos zwischen den
schneebedeckten Zweigen. »Wie schön! Wie echt! Wie schön, zu leben und das zu sehen!« Er wollte sich schon
abwenden, da sah er aus der Tür zur Wohnung des Bahnwärters eine Frau
heraustreten. Als sie Ömer erblickte, zuckte sie zusammen und wollte instinktiv
ihr Kopftuch zurechtrücken, doch hatte sie gar keines auf. Ömer dachte
schmunzelnd: »Das ist ja noch echter!« Irgend jemand schien alles so
einzurichten, dass ihm, Ömer, ungeahnte Wonnen zuteil wurden und er sich nur ja
nicht langweilte, sondern einfach nur das Dargebotene zu genießen brauchte.
Als er sich wieder den Gleisen
zuwandte, sah er den Bahnwärter von den Weichen zurückkommen. Er stellte sich
vor und fragte nach Hacı, der das Depot mit den Baumaschinen
beaufsichtigte und ihn nach Möglichkeit beherbergen sollte.
Bei der Erwähnung des Namens
Hacı leuchtete das Gesicht des Bahnwärters auf. »Ja, der kommt manchmal
hier vorbei! Ich kann meinen Jungen nach ihm schicken! Setzen Sie sich doch!«
Ömer nahm drinnen Platz. An der Wand
hingen Bilder von Atatürk und İsmet Paşa.
Der Bahnwärter kam zurück. »Ich habe
ihn losgeschickt.« Ömer nickte gähnend. »Bis er zurück ist, könnten wir doch
Tavla spielen? Zum Zeitvertreib …«
»Natürlich, warum nicht?«
Der Mann holte ein Tavlaspiel
herbei, und sie begannen eine Partie.
52
IMMER NOCH AUF DER SUCHE
Refık saß im Arbeitszimmer an seinem
Tisch.
Die Tür ging auf, und Osman streckte
neugierig den Kopf herein. »Ach, da bist du!« Er trat ein. »Jetzt sitzt du
schon wieder hier herum!«
Refık lächelte seinen Bruder
an.
Osman sagte: »Heckst du wieder was
aus? Nicht dass du uns wieder abhaust!«
»Wer weiß?«
Osman goutierte nicht, dass
Refık auf seinen Scherz auch noch einging. »Das würde aber keiner mehr
tolerieren! Auch deine Frau nicht …«
»Ach ja?«
»Was liest du denn da?« Wie ein
Vater, der die Schulbücher seines Sohnes kontrolliert, beugte er sich über das
Buch auf dem Tisch. »Hölderlin … Hyperion! Wer ist denn das?«
»Ein deutscher Dichter.«
»Und
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