Cevdet und seine Soehne
Verlegenheit merkte er, dass er richtig
lag. »Ich hätte nur nicht gedacht, dass dieses naive Gehabe so sehr ausarten
kann! Von unserem Barbarentum und vom Licht der Aufklärung hattest du ja schon
geschwätzt, aber dass du so weit gehst … Da schreibt er sich Briefe mit einem
Christen …« Refıks Schweigen spornte ihn noch mehr an. »Ich habe schon
oft gedacht, dass du eigentlich selber einer bist! Du bist gar kein Türke
mehr!«
»He! Meinst du das im Ernst?« warf
Ömer ein.
Muhittin kam der Verdacht, er sei zu
weit gegangen. Er wunderte sich, dass Refık so gar nicht reagierte. »Der
ist wahrscheinlich wirklich ein glücklicher Mensch!« dachte er. »Er ist
überhaupt nicht aggressiv. Wahrscheinlich denkt er sich nur, dass er sowieso
recht hat, und leid tut ihm höchstens, dass er keine Antwort zustande bringt.
Na ja, und vielleicht tue ich ihm ein bisschen leid!« Er kehrte den beiden den
Rücken zu und wanderte im Wohnzimmer umher. Dann wandte er sich um und sagte:
»Du bist mir doch nicht böse, Refık? War nur ein Scherz!«
»Ich weiß doch, dass du ein guter
Mensch bist, Muhittin!« sagte Refık.
»Ein guter Mensch mit schlechten
Gedanken, das meinst du doch, oder?« Zum erstenmal wollte er wirklich wissen,
was in Refık vorging. Ihm fiel wieder Refıks Hölderlinlektüre ein.
»Dieser Hölderlin da, liest du den noch?«
»Ach, dir hat er auch davon
erzählt!« sagte Ömer. »Das war der Lieblingsautor von diesem Deutschen!«
»Ich habe sogar gesehen, wie er drin
gelesen hat. Aha, von dem Deutschen hast du das also. Und was hast du so
gelernt von deinem Hölderlin?«
»Das, was du so von Baudelaire gelernt
hast …« versetzte Refık.
»Da hast du deine Antwort!« sagte Ömer lachend.
»Ganz schön schlagfertig, unser Refık!«
»Aber so meine ich es gar nicht!«
korrigierte Refık. »Die beiden sind ganz verschieden. Hölderlin schreibt
doch gesündere Sachen.«
»Gesünder? Wie darf ich denn das
verstehen?« fragte Ömer.
»Mich kümmern die beiden herzlich
wenig«, sagte Muhittin. »Und wenn ihr mich fragt, ist da einer wie der andere!«
»Ich weiß ja auch nicht so recht!«
erwiderte Refık. »Was wissen wir schon! Wir müssten viel mehr lesen. Jeder
sollte lesen. Und da ich schon was intus habe, gestehe ich euch jetzt, dass ich
einen Verlag gründen will! Ich will billige, gute Bücher herausbringen und
dafür sorgen, dass jedermann Autoren wie Rousseau und Defoe lesen kann.«
Verlegen sah er seine Freunde an. »Na, was sagt ihr dazu?«
»Pleite wirst du machen!« sagte Ömer
gähnend.
»Ums Geld geht es mir dabei nicht!
Und warum sollte ich Pleite machen? Gute Bücher finden beim Volk ihre Leser.« Er
sah Muhittin an. »Komme ich euch weltfremd vor?«
»Die Renaissancekultur … Die
griechischen Klassiker!« murmelte Muhittin. Verärgert stellte er fest, dass er
betrunken war.
»Ja, genau solche Sachen!« sagte
Refık aufgeregt. Als er Muhittins Miene sah, wandte er sich lieber Ömer
zu. »Ich habe schon recht mit dem, was wir bräuchten. Gestern war ich auf
Heybeliada, bei der Beschneidung meines Neffen. Eine furchtbare Veranstaltung!
Abstoßend! Die Mädchen und Frauen versammeln sich um den Beschnittenen, und
dann kommt ein Zauberer und …«
Muhittin dachte: »Was erzählt der
da? Warum bin ich bloß schon betrunken? Ich muss mich hinsetzen. Wie viele
Gläser hatte ich denn? Ich habe überhaupt nicht aufgepasst. Am besten, ich ess
erst mal was!« Er lud sich ein wenig Salami und gegrillte Auberginen auf den
Teller und setzte sich taumelnd in den Sessel gegenüber von Omer.
»Mensch, ihr hört mir ja gar nicht
zu!« beklagte sich Refık.
»Ja, keiner von uns hört dem anderen
zu!« sagte Ömer. »Wir haben uns vollaufen lassen wie die Idioten. Aber das ist
es gar nicht mal. Wir interessieren uns nicht mehr füreinander! Jeder denkt nur
an sich selbst, ist mit dem eigenen Leben beschäftigt. Und was haben wir schon
gemacht in unserem Leben? Nichts!« Er goss sich wieder Rakı ein.
»Das kannst du über dich selber
sagen, aber nicht über uns, nicht über mich!« entgegnete Muhittin angewidert.
»Soso! Und wolltest du dich
vielleicht nicht umbringen, falls du kein guter Dichter wirst?«
»Aber ich sage euch doch, dass ich
mich von Grund auf geändert habe. Diese Art von Dichterei und diesen
Pessimismus habe ich überwunden. Was ich jetzt schreibe, kann man sowieso nicht
mehr direkt Poesie nennen.«
»Ach ja, Lehrgedichte …« sagte
Ömer.
»Die Poesie überlasse ich
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