Cevdet und seine Soehne
SONNTAG
»Osman, fahr doch nicht so schnell!« mahnte
Nigân.
»Aber Mama, ich fahre nicht
schneller als fünfzig!« beteuerte Osman.
»Und schau nicht zu mir her, sondern
auf die Straße!«
»Ich schaue ja auf die Straße, aber
wenn du immer …« grummelte Osman und verstummte dann mit resignierender
Geste, aber in Wirklichkeit war er nicht aufgebracht. »Keriman! Heute
nachmittag sehe ich Keriman!« dachte er nur. An Sonntagnachmittagen traf er
sich mit der Frau in der Wohnung, die er für sie gemietet hatte.
»Kinder, hört doch mal mit diesem
Spiel auf und seht euch lieber die Landschaft an!«
Wie bei jeder Autofahrt spielten
Cemil und Lâle »Augen zumachen«. Osman kannte die Regeln dieses Spiels nicht,
aber er wusste, dass die beiden fortwährend die Augen zudrückten und nicht zum
Fenster hinaussahen.
»Hört auf mit dem Spiel!« sagte auch
Nermin. »Schaut mal, wie der Dampfer ablegt. Wir machen wegen euch solche
Ausflüge, und ihr macht ständig die Augen zu!«
»Wir haben auf der Hinfahrt schon
alles gesehen!« sagte Cemil.
Da mussten sowohl Nigân als auch
Nermin lachen. Sie waren auf der Rückfahrt von einem ihrer Sonntagsausflüge. Es
war schon Anfang September, aber noch ziemlich heiß. Sie waren in dem Jahr früh
von Heybeliada zurückgekehrt. Nach Ausbruch des Krieges hatte Nigân immer
wieder gesagt, sie wolle heim, sie sehne sich nach ihrem Haus. Man erklärte
ihr, die Türkei werde in den Krieg nicht eintreten, und selbst wenn, dann sei
man auf der Insel noch am sichersten, aber darüber rümpfte sie nur die Nase und
sagte, sie wolle auch Vorbereitungen für Ayşes Verlobung treffen. Bis
dahin waren es zwar noch gute drei Monate hingewesen, und der Krieg fand in
weiter Ferne statt, aber da Nigâns trübe Miene mehr zählte als alles andere,
waren sie frühzeitig nach Nişantaşı umgezogen. Osman dachte:
»Wieder ein neues Jahr! Wir werden wieder sonntags an den Bosporus fahren,
werden dort Fisch kaufen, und in der Firma wird es wieder …« Da musste er an
die Hindernisse denken, die der Krieg für den Handel mit Deutschland bringen
würde.
»Ist es für den Fisch nicht zu heiß
dahinten?« fragte Nigân.
»Er war ganz frisch!« beruhigte sie
Nermin.
»Nimm trotzdem das Paket lieber auf
den Schoß, Ayşe! Wir grillen den, nicht wahr? Hoffentlich kommt Refık
nicht zu spät zum Essen.«
»Tut er schon nicht!« sagte Osman.
Sie schwiegen. Drei Tage zuvor hatte
Refık beim Mittagessen erklärt, Perihan und er hätten vor, in eine eigene
Wohnung zu ziehen. Nigân hatte sich aufgeregt und dann angefangen zu weinen,
und da sie von ihrem Sohn keine befriedigende Begründung für diesen Schritt
erhalten hatte, führte sie auch diese Unbill darauf zurück, dass Cevdet nicht
mehr da war.
»Warum wollen sie denn weg von uns?
Kannst du mir das sagen, Osman?«
»Bitte, Mama, nicht wieder dieses
Thema! Er hat es dir doch gesagt. Jetzt, wo Melek so groß ist, wollen sie mehr
Platz.«
»Aber sie kriegen doch ein eigenes
Kinderzimmer, wenn sie wollen!« Nigân fragte Ayşe: »Was sagt denn Perihan?
Du kommst doch gut mir ihr aus, dir hat sie bestimmt was gesagt!«
»Ja, aber auch nur, dass ihnen das
Zimmer zu klein ist.«
»Ach, warum nur?« klagte Nigân. »Und
du wirst heiraten und weggehen!«
Da entfuhr es Osman: »Dann lassen
wir endlich auch ein Apartmenthaus bauen!«
»Das könnt ihr schon machen, aber erst,
wenn ich bei Cevdet bin!« versetzte Nigân weinerlich. »Ach, Cevdet!«
Osman dachte wieder an Keriman.
»Nach dem Mittagessen … Wie könnte ich es aushalten, ohne zu ihr zu gehen?
Keriman … Das Halstuch!« Er überlegte, wie er ihr das Tuch überreichen
sollte, das er für sie gekauft hatte. Dann dachte er an die erste Zeit mit
Nermin zurück. »Alt bin ich geworden!« Er schielte zu Nermin hinüber, die neben
ihm saß, auch sie in Gedanken versunken. »Alles zerfällt. Aber ich bin nicht
schuld daran. Wer dann? Es ist eben passiert. Aber der Firma geht es gut!« Seit
Kriegsausbruch waren die Umsätze emporgeschnellt. »Dass Ayşe Remzi
heiratet, ist auch günstig. Jetzt habe ich keine Befürchtungen mehr, dass die
Firma mal auseinanderbricht. Wir stehen sogar noch stärker da.« Neben einer
reinen Vergrößerung der Firma schwebte ihm noch etwas anderes vor. »Warum
sollten wir nicht auch hierzulande Glühbirnen herstellen? Oder Elektroteile …
Das ist quasi Vaters Vermächtnis … Mit Siemens könnten wir –«
»Hier haben sie ganz schön gewütet!«
sagte Nigân.
Sie
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