Cevdet und seine Soehne
so
Zeug.«
»Ist das dein Ernst?« İlknur
wirkte enttäuscht. Um Ahmet einen Gefallen zu tun, las sie weiter vor. »Warum
sind wir so, wie wir sind, und so anders als die Europäer? Warum lese ich gerne
Rousseau und Voltaire, während mir Tevfık Fikret und Namık Kemal kaum
etwas bedeuten?« Sie sah auf. »Was sagst du dazu?«
»Geht das immer so weiter?« fragte
Ahmet.
»So in etwa. Aber er schreibt auch,
was sich so tut.«
»Dass er zum Bäcker geht und so?«
»Wenn’s dich nicht interessiert, warum
hast du mir das Heft dann überhaupt gegeben?«
Sie las wieder vor. »Jeden Morgen
schlage ich die Zeitung in der Hoffnung auf, dass irgend etwas darin mein Leben
von Grund auf verändern wird.« Sie blätterte um. » Ich lese intensiv, über
Wirtschaft und Philosophie.« Wieder blätterte sie weiter. »Ich habe mein
Tagebuch noch einmal durchgelesen. Mein eigentliches Leben spiegelt sich darin
nicht wider. Die meiste Zeit verbringe ich nämlich mit Perihan, mit meinen
Neffen und Nichten, mit Ayşe und meiner Mutter, wir schwatzen und
beschäftigen uns mit irgendwelchen Belanglosigkeiten.«
»Siehst du!« rief Ahmet. »Ein
stinknormales Leben! Und ein Mensch, der an der Oberfläche bleibt!«
»Mag schon sein! Und trotzdem hörst
du so gespannt zu!«
»Ein Tagebuch ist immer irgendwie
interessant.«
»Ja. Ich habe mich beim Lesen auch
gefragt, was mir daran gefällt. Bei deinem Vater paart sich eine Art Halbwissen
mit wunderlicher Naivität. Du hast mir ja schon davon erzählt, und ich möchte
auch noch mehr erfahren. Aber sag mal, wo hat man schon gesehen, dass ein
reicher Kaufmann, der mit seiner Frau und seinen Kindern ein ruhiges Leben
führt, so was schreibt wie dein Vater?«
»In der Türkei gibt es so was eben!
Und gar nicht mal selten.«
»So? Dann nenn mir doch ein
Beispiel! Und komm mir nicht mit irgendwelchen Pensionären und Kunstliebhabern,
die ihre Memoiren schreiben. Er war ein Geschäftsmann und hat alles verloren.
Sogar seine Frau!«
»Meine Mutter hatte schon recht!«
»Darum geht es jetzt ja gar nicht«,
sagte İlknur beschwichtigend. »Ich les noch was vor; wirst sehen, dass ich
recht habe.«
»Dann lies schon, wenn du unbedingt
willst.«
»Montag, den 14. März 1938. Gestern
abend wieder bei Herrn Rudolph gewesen.«
»Wer ist das denn?«
»Ein Deutscher. Bei den Sachen
deines Vaters müssten Briefe von dem sein. Such doch mal. Und mit Süleyman
Ayçelik hat er auch korrespondiert.«
»Na was denn? Willst du jetzt auch
schon in altem, vergilbtem Zeug herumwühlen?«
Amüsiert nickte İlknur und fing
erneut an vorzulesen: »Rudolph hat wieder aus seinem Hölderlin vorgetragen und
erklärt, was er von der Seele des Orients und von Ömers Plänen hält. Auch über
mich hat er sich ausgelassen und mir geraten, nicht vom Pfad des Rationalismus
abzuweichen.« İlknur sah wieder auf. »Na, was sagst du dazu?«
»Gar nichts! Ich möchte was von
Ereignissen hören. Ob es nun echte oder eingebildete waren!«
»Den hier aufgezeigten Plänen zur
Entwicklung der Dörfer und der ganzen Türkei möchte ich mein ganzes Leben
widmen.«
»Das hat er wohl in Kemah
geschrieben.«
»Ja! Das wusstest du schon?«
»Meine Mutter hat davon erzählt.
Seine Pläne sind auch veröffentlicht worden; hier ist das Buch.«
İlknur stand auf und nahm es
vom Tisch. Als sie darin herumblätterte, rutschte ein Zeitungsausschnitt
heraus. İlknur las vor: »Utopie und Realität! Da hat einer das Buch
besprochen!«
»Ja, und die Überschrift zeigt
schon, wie recht der Mann hatte! Mit der Realität hat sich mein Vater doch gar
nicht befasst!«
»Stimmt! Ich behaupte ja auch nicht,
dass dein Vater auf irgendeine Realität gestoßen ist, aber er selbst ist eine!
Verstehst du, was ich meine? Gerade weil er sich mit Utopien beschäftigt hat,
ist er so real!«
»Jaja, ich weiß schon, was du
meinst«, erwiderte Ahmet, »aber das erscheint mir nicht so wichtig. Wie du ja
selber schon gesagt hast, kommt das bloß von seiner europäischen Art.«
»Ach ja?«
»Ich meine, was findest du an diesem
Tagebuch?«
»Weiß nicht. Soviel auch wieder
nicht. Es interessiert mich eben.«
Mit neuem Schwung las İlknur
wieder vor. »Dienstag, 26. September 1939. Warum ich in all dem Aufruhr
beschlossen habe, wieder Tagebuch zu führen? Wohl weil ich das Gefühl habe,
dass die Zeit so schnell vergeht!« Das fand sie nun selbst zu belanglos. Eine Weile
las sie still vor sich hin, dann musste sie kichern. »Halb zehn Uhr. Wir
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