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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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führt dich
nämlich in die Irre. Ich lebe hier durchaus intensiv. Man kann ja am Tag mit
hundert Leuten Umgang haben, aber das bleibt alles an der Oberfläche. Ich aber
stoße in die Tiefe vor. Und das tue ich für die ganze Gesellschaft. Was könnte
es Natürlicheres geben als mein reiches, volles Leben?« Er lächelte İlknur
an, dachte aber dabei: »Warum lasse ich mich nur zu solchen Verstiegenheiten
hinreißen?«
    »So was wie mit dem reichen Leben
steht auch im Tagebuch deines Vaters!« sagte İlknur.
    »Ja genau, das wollten wir uns ja
ansehen! Du hast also alles lesen können? Ich habe inzwischen noch so ein Heft
gefunden.« Er ging es holen. »So, die Nachrichten sind zu Ende. Wir hören nun
den Tageskommentar!« Er reichte İlknur das Heft. Ihm fiel wieder ein alter
Scherz ein. »Was soll man mit seinem Leben anfangen, Katja Mihailowa? Was ist der
Sinn des Lebens?«
    »Mein lieber Stepan Stepanowitsch!«
erwiderte İlknur lachend. »Sie irren sich schon wieder!
Niemand fragt mehr danach, was er mit seinem Leben anfangen soll. Sie hinken
Ihrer Zeit hinterher. Heute fragen die Leute nicht nach dem Sinn des Lebens,
sondern nach der Rettung des Vaterlands!«
    Es waren dies Sätze, die sie sich
manchmal im Spaß zuriefen. Einmal hatte Ahmet sogar gesagt, um dieses
Scherzchen drehe sich im Grund die gesamte russische Literatur.
    »Wenn wir doch einen Samowar oder
eine Ofenbank hätten!« sagte İlknur.
    Ahmet erwiderte vergnügt: »Das ist
eben die Türkei hier! Wir haben nicht die Wirklichkeit vor uns, sondern eine
schlechte Kopie davon!«
    »Das meinst vielleicht du!«
    »Na schön! Schauen wir uns doch mal
das Tagebuch an. Mal sehen, wie die gelebt haben!«

8
  DAS ALTE TAGEBUCH
    »Das da habe ich heute gefunden«, sagte Ahmet.
»Schau doch mal rein, was das ist!«
    İlknur schlug das Heft hinten
auf, fand aber nichts.
    »Am Anfang müssen ein paar Seiten stehen«,
sagte Ahmet.
    »Dein Vater hat es genauso gemacht«,
sagte İlknur. »Er hat zwar in arabischer Schrift von rechts nach links
geschrieben, aber sein Tagebuch links angefangen, in europäischer Manier.«
    »Tja, europäische Mentalität eben!« sagte
Ahmet lachend.
    »Stimmt aber wirklich. Ich hätte
gedacht, wir seien europäischer, aber dein Vater war vom einfachen Volk viel
weiter entfernt als wir.«
    »Man hat immer eine viel zu
ganzheitliche Vorstellung von den Leuten früher«, sagte Ahmet. »Vor allem, wenn
man die Vergangenheit für ein Paradies hält.« Verlegen fügte er hinzu. »Wir
haben doch immerhin den Marxismus studiert.«
    »Dein Vater aber auch!«
    »Tatsächlich? Unter seinen Büchern
habe ich nichts davon gefunden.«
    »Er schreibt, er hat sich das von
einem Freund ausgeliehen.«
    »Und warum hat sich so was nicht in Europa gekauft?
Als er in Frankreich war, zum Beispiel.«
    »Ach so, er war in Frankreich? Wann
denn?«
    »Ich war schon groß genug, dass ich
mich daran erinnern kann.« Er deutete auf die Tagebücher. »Tja, mein Vater, der
Märchenheld … Was ist jetzt mit dem anderen Heft?«
    İlknur blätterte darin herum
und sagte plötzlich lachend: »Ein Jahrhundert Geschäftsleben!«
    »Lies vor! Das muss von meinem
Großvater sein!«
    »Da steht erst zehnmal
hintereinander das gleiche. Und ich kann es auch kaum lesen. Die Schrift von
deinem Vater sieht viel eher aus wie Druckschrift. Bei Handschriften sind die
arabischen Buchstaben viel schwerer zu lesen.«
    »Hm, dann machst du deinen Doktor
wohl doch im Ausland!«
    »Hör bloß damit auf!« Stockend las
sie vor. »Nigân und ich sind heute zusammen … Berlin … War sehr lehrreich
… Ein schönes Foto … Nein, da steht nichts Besonderes. Schauen wir lieber
das andere an. Warum ist dein Vater nach Frankreich?«
    »Was weiß ich? Wird ihm einfach
eingefallen sein! Was hat er denn so geschrieben?«
    »Seine Gedanken, seine Sorgen. Ein
bisschen naiv muss er schon gewesen sein, dein Vater, aber interessant!«
    »Jetzt lass hier deine Kommentare
und lies vor!«
    »Also gut: Montag, i3. September
1937. Gestern habe ich mich in Beşiktaş mit Muhittin getroffen. Wir
haben in einer Kneipe gesessen und geredet. Er konnte mir überhaupt nichts
raten und hatte wieder dieses Spöttische an sich. Nach dem Gespräch ist mir das
Alltagsleben wie verboten vorgekommen, jede Sekunde davon eine Sünde. Neue
Zeile. Heute den ganzen Tag in der Firma gewesen.« Sie kicherte.
    »Was gibt’s denn da zu lachen?«
fragte Ahmet gereizt. »Wenn man nicht gut drauf ist, schreibt man eben

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