Chalions Fluch
gebettet. Schließlich wachte er auf und sah die trostlose, dämmrige Winterlandschaft an sich vorüberziehen wie in einem Traum.
Lasst mich lange genug leben, ihr Götter, um Iselle vom Fluch befreit zu sehen. Er wünschte sich nichts mehr vom Leben als die Möglichkeit, zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte: Iselles Heirat, und Betriz in Sicherheit zu wissen – wenn die Götter ihm diese beiden Gaben gewährten, dann konnte er in stiller Zufriedenheit sterben.
Ich bin so müde.
Eine Stunde nach Sonnenuntergang zogen sie durch die Tore von Taryoon, der Residenzstadt des Herzogtums Baocia. Neugierige Bürger versammelten sich entlang ihrer kleinen Prozession und liefen daneben her, um ihnen mit Fackellicht den Weg zu erhellen, oder sie eilten auf ihre Balkone, um aus der Höhe zu sehen, wie sie vorüberzogen. Die Frauen warfen Blumen herab, die Bergons Gefährten aus Ibra nach anfänglicher Unsicherheit auffingen. Zum Glück zielten die Damen gut. Die jungen Edelleute erwiderten die Geste mit zuversichtlichen und begeisterten Küssen, die sie den Damen zuwarfen.
Nahe dem Stadtzentrum wurden Bergon und seine Freunde, von Palli geführt, zum Palast des wohlhabenden Grafen dy Huesta umgeleitet, einem der bedeutendsten Anhänger des Herzogs und – nicht zufällig – sein Schwager. Die baocische Wache trug Cazarils Sänfte in zügigem Tempo zum neuen Anwesen des Herzogs selbst; es ging die Straße hinunter und fort von der beengten, finsteren alten Feste.
Während dy Baocias Majordomus ihn zu einer gut beheizten Schlafkammer führte, hielt Cazaril seine kostbaren Satteltaschen umklammert, die die Zukunft zweier Länder bargen. Zahlreiche Wachskerzen beleuchteten zwei Dienstboten, die ein Sitzbad vorbereitet hatten mit zusätzlichem heißen Wasser, Seife, Schere, Duftwasser und Handtüchern. Ein dritter Mann trug ein Tablett mit mildem weißem Käse, Früchtebrot und einer reichhaltigen Menge heißem Kräutertee herein. Irgendjemand hatte Cazarils Garderobe zusammengestellt und Ersatzkleidung auf dem Bett ausgelegt: frische Unterwäsche, höfische Trauergewänder, Brokat- und Samtgewänder, dazu einen Gürtel aus Silber und Amethyst. Die Verwandlung vom Landstreicher zum Höfling dauerte kaum zwanzig Minuten.
Cazaril nahm das Päckchen mit den Dokumenten aus den Satteltaschen, deren seidene Umhüllung noch in Wachstuch eingeschlagen war, und untersuchte es auf Schmutz und Blutflecke, doch nichts Unziemliches war unter die schützende Hülle gelangt. Cazaril warf das schmutzige Wachstuch weg und klemmte sich die Unterlagen unter den Arm. Der Majordomus führte ihn über einen Hof, wo Arbeiter bei Fackelschein gerade die letzten Bodenplatten einpassten, und weiter ins angrenzende Gebäude. Sie durchquerten eine Reihe von Gemächern, bis sie in eine geräumige, geflieste Halle kamen, die mit Teppichen und Wandbehängen ausstaffiert war. Mannshohe eiserne Kandelaber, jeder mit fünf Kerzen bestückt und kunstvoll gearbeitet, verbreiteten warmes Licht. Iselle thronte auf einem großen, geschnitzten Stuhl am anderen Ende des Raumes; an ihrer Seite saßen Betriz und der Herzog, die beide ebenfalls Hoftrauer trugen.
Sie blickten auf, als Cazaril eintrat. Die Frauen waren erfreut, doch die Miene des Herzogs dy Baocia – ein Mann mittleren Alters –, drückte zurückhaltende Vorsicht aus. Iselles Onkel besaß nur wenig Ähnlichkeit mit seiner jüngeren Schwester Ista. Er wirkte eher stämmig als zerbrechlich, obwohl auch er nicht allzu groß war und Istas graubraune Haarfarbe besaß. In Begleitung dy Baocias befand sich ein beleibter Mann, den Cazaril für seinen Schreiber hielt, sowie ein ältlicher Bursche, der die fünffarbigen Roben des Erzprälaten von Taryoon trug. Cazaril musterte ihn hoffnungsvoll auf der Suche nach einer Spur göttlichen Leuchtens, doch der Mann war bloß ein schlichter Gläubiger.
Mit dem zweiten Gesicht sah Cazaril die dunkle Wolke, die sich noch immer dicht um Iselle zusammenballte, obwohl sie zurzeit träge und behäbig wogte. Aber nicht mehr für lange, wenn die Herrin Gnade zeigte.
»Willkommen daheim, Kastellan«, sagte Iselle. Die Wärme in ihrer Stimme war wie ein Streicheln auf seiner Haut, der Gebrauch seines Titels jedoch eine verstohlene Warnung.
Cazaril vollführte die heiligen Gesten. »Den fünf Göttern sei Dank, Iselle, alles ist gut!«
»Ihr habt die Verträge?«, fragte dy Baocia. Sein Blick haftete auf den Päckchen unter Cazarils Arm; dann streckte er die Hand
Weitere Kostenlose Bücher