Chalions Fluch
Augenblick fragte sich Cazaril, ob sie eingeschlafen war, so still lag sie da. Doch ihre Augen im zur Seite gedrehten Gesicht – ihre weiche Wange lag schutzlos auf dem Steinboden – standen offen, grau und starr und angefüllt mit ungeweinten Tränen.
Es war ein Ausdruck tiefsten Kummers. Cazaril wurde an die Blicke mancher Männer erinnert, die er gesehen hatte: nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zerbrochen durch Kerkerhaft oder das Grauen auf den Galeeren. Und er erinnerte sich an sein eigenes Gesicht, wie er es in einem Spiegel aus poliertem Metall im Haus der Mutter in Ibra gesehen hatte, als die Tempelbrüder ihn rasiert und ermuntert hatten, sich selbst zu betrachten. Schau, ist das nicht besser? Doch er war ziemlich sicher, dass die Königin nie im Leben auch nur in Hörweite eines Kerkers gewesen war, dass sie nie den Biss einer Peitschenschnur gespürt und vermutlich nie erlebt hatte, wie ein Mann im Zorn seine Hand gegen sie erhob. Was war es dann? Still stand er da, mit offenem Mund, und wagte kein Wort zu sagen.
Auf ein Quietschen und Rascheln hin schaute er zurück und sah die Herzoginwitwe eintreten, begleitet von ihrer Cousine. Im Vorübergehen schenkte sie ihm einen Blick, und Cazaril brachte eine kleine Verbeugung zu Stande. Die Kammerfrauen in Begleitung der Königin schreckten hoch, erhoben sich und entboten schweigsame Knickse.
Die Herzogin schritt den Gang zwischen den Bänken entlang und musterte ihre Tochter ausdruckslos. »Ach du meine Güte. Wie lange ist sie schon hier?«
Eine der Kammerfrauen deutete wieder einen Knicks an. »Sie ist mitten in der Nacht aufgestanden, Hoheit. Wir hielten es für besser, ihr nicht entgegenzutreten und sie hier hinuntergehen zu lassen. Wie Ihr uns angewiesen habt …«
»Schon gut.« Mit einer knappen Geste schnitt die Herzogin die ängstliche Entschuldigung ab. »Hat sie überhaupt geschlafen?«
»Ein oder zwei Stunden, würde ich sagen, Herrin.«
Die Herzogin seufzte und kniete an der Seite ihrer Tochter nieder. Ihre Stimme wurde sanft, alle Schärfe war daraus verschwunden. Zum ersten Mal hörte Cazaril das Alter heraus.
»Ista, Liebes. Steh auf und geh wieder zu Bett. Heute werden andere die Gebete übernehmen.«
Die Lippen der liegenden Frau bewegten sich, bevor gemurmelte Worte hörbar wurden. »Wenn die Götter zuhören. Wenn sie zuhören, so antworten sie nicht. Sie haben sich von mir abgewandt, Mutter.«
Beinahe unbeholfen strich die alte Frau ihr durchs Haar. »Andere werden heute beten. Wir werden sämtliche Kerzen neu entzünden und es ein weiteres Mal versuchen. Lass dich von deinen Damen wieder zu Bett bringen. Komm schon!«
Die Königin blinzelte und erhob sich widerstre bend. Auf eine Kopfbewegung der Herzogin hin sprangen ihre Begleiterinnen vor und führten die Königin aus der Halle. Ihre herabfallenden Halstücher sammelten sie hinter ihr ein. Als sie an Cazaril vorüberging, musterte er besorgt ihr Gesicht, fand jedoch keine Anzeichen für eine zehrende Krankheit: kein gelblicher Farbton der Haut, keine Magerkeit. Sie schien Cazaril kaum wahrzunehmen, und in ihren Augen zeigte sich beim Anblick des bärtigen Fremden keine Spur des Erkennens. Nun, es gab auch keinen Grund, weshalb sie sich an ihn erinnern sollte. Er war nur einer von Dutzenden Pagen, die im Haushalt derer von dy Baocia im Laufe der Jahre ein- und ausgingen.
Die Herzogin wandte den Kopf, als die Tür hinter ihrer Tochter zufiel. Cazaril war nahe genug, um ihren stummen Seufzer zu bemerken.
Er verneigte sich tiefer. »Ich danke Euch für diese Festtagsgarderobe, Hoheit. Wenn …« Er zögerte. »Wenn ich etwas tun kann, Eure Last zu mildern, oder die der Königin, so sagt es mir.«
Sie lächelte, nahm seine Hand und tätschelte sie. Aber sie sagte nichts. Schließlich öffnete sie die Fensterläden an der Ostseite des Raumes, um den pfirsichfarbenen Glanz der Morgendämmerung einzulassen.
Rund um den Altar blies Lady dy Hueltar die Kerzen aus und sammelte die heruntergebrannten Überreste in einem Korb, den sie zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Die Herzogin und Cazaril halfen ihr dabei, die traurigen Wachspfützen in jedem Halter durch frische, neue Bienenwachskerzen zu ersetzen. Als mehrere Dutzend Kerzen aufrecht bereit standen wie junge Soldaten, eine jede vor ihrer jeweiligen Gedenktafel, trat die Herzogin zurück und nickte zufrieden.
Zu dieser Zeit traf auch der Rest des Haushalts ein, und Cazaril zog sich auf einen unaufdringlichen Platz
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