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Chalions Fluch

Chalions Fluch

Titel: Chalions Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois McMaster Bujold
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Sittsamkeit, verehrte Dame«, brachte er heraus.
    »Das ist wahr«, sagte sie fröhlich.
    Sie blieb stehen, wo sie war.
    Er nickte in Richtung der Kleidung. »Ich möchte die Familie nicht während der Festlichkeiten stören. Seid Ihr sicher …?«
    Sie verschränkte die Hände. Ihr Blick wurde eindringlicher. »Aber Ihr müsst an der Prozession teilnehmen. Und Ihr müsst, müsst, müsst unbedingt im Tempel sein, wenn die vierteljährlichen Opfergaben zum Tochterstag überreicht werden! Prinzessin Iselle wird in diesem Jahr die Frühlingsherrin spielen.« In ihrem Eifer wippte sie auf den Zehen.
    Cazaril lächelte verlegen. »Na gut, wenn Ihr es wünscht.« Wie konnte er einer so mitreißenden Freude widerstehen? Prinzessin Iselle musste auf die sechzehn zugehen. Er fragte sich, wie alt Lady Betriz war. Zu jung für dich, alter Bursche. Doch gewiss durfte er sie mit rein ästhetischer Wertschätzung betrachten und den Göttinnen für die Gabe der Jugend, Schönheit und Begeisterung danken, mit denen sie – wie auch immer verteilt – gesegnet war und welche die Welt wie Blumen bereicherten.
    »Außerdem«, stellte Lady Betriz fest, »wünscht es die Herzogin!«
    Cazaril nutzte die Gelegenheit und entzündete seine Kerze an der ihren. Anschließend gab er ihr die glasgeschützte Flamme zurück und deutete so zugleich an, dass es an der Zeit für sie war, zu gehen und ihn sich ankleiden zu lassen. Die doppelte Beleuchtung ließ sie noch hübscher erscheinen und bewirkte bei ihm ohne Zweifel das Gegenteil. Sie hatte sich schon zum Gehen gewandt, als er sich seiner vorsichtigen Frage entsann, die am letzten Abend unbeantwortet geblieben war.
    »Wartet noch, werte Dame …«
    Sie wandte sich ihm wieder zu, mit neugierig fragendem Blick.
    »Ich wollte die Herzogin nicht damit belästigen, oder vor dem Prinzen und der Prinzessin darüber reden – aber was bekümmert Königin Ista? Ich möchte ungern aus Unwissenheit etwas Falsches tun oder sagen …«
    Das Leuchten in ihren Augen verblasste ein wenig. Sie zuckte die Schultern. »Sie ist müde. Und unruhig. Wir alle hoffen, dass es ihr besser geht, sobald die Tage sonniger werden. Im Sommer hat sie sich stets wohl gefühlt.«
    »Wie lange lebt sie schon hier bei ihrer Mutter?«
    »Seit sechs Jahren, Herr.« Sie deutete einen Knicks an. »Jetzt muss ich aber zu Prinzessin Iselle. Verspätet Euch nicht, Kastellan!« Wieder zeigte sie ihm ihr Lächeln, dann huschte sie davon.
    Diese junge Dame kam gewiss niemals zu spät. Ihre Energie war beinahe erschreckend. Cazaril schüttelte den Kopf, obwohl das Lächeln, mit dem er sie bedacht hatte, noch immer auf seinen Lippen lag. Dann drehte er sich um und betrachtete seinen neuen Wohlstand.
    Ohne Zweifel näherte er sich nun einer höheren Klasse abgelegter Kleidung: Die Tunika bestand aus blauem Seidenbrokat, die Hose aus schwerem, dunkelblauem Leinen. Der knielange Überwurf war aus weißer Wolle. Die Kleidung war sauber, die kleinen Flicken und Flecken fielen kaum auf. Womöglich war es dy Ferrejs Festtagskleidung, die ihm nicht mehr ganz passte; vielleicht war es sogar eine lange Zeit eingemottete Hinterlassenschaft des früheren Herzogs.
    Cazaril eilte nach unten und aus dem Bergfried hinaus; das Schwert hing an seiner linken Hüfte, ein gleichermaßen vertrautes wie ungewohntes Gewicht. Er überquerte den grauen Innenhof und begab sich zur Ahnenhalle.
    Die Luft im Hof war kühl und feucht, die Pflastersteine schlüpfrig unter seinen dünnen Sohlen. Am Himmel waren noch immer ein paar Sterne zu sehen. Cazaril öffnete behutsam die große Bohlentür zur Halle und blickte hinein. Kerzen, menschliche Gestalten – war er zu spät? Er schlüpfte durch die Tür. Rasch gewöhnten seine Augen sich ans Licht.
    Er war nicht zu spät, sondern zu früh. Ein halbes Dutzend heruntergebrannter Kerzenstümpfe leuchtete vor den Reihen der kleinen Ahnentafeln an der Stirnseite des Gemachs. Zwei Frauen saßen in der vordersten Bankreihe, in Schultertücher gehüllt, und wachten über eine dritte Frau.
    Die Königinwitwe Ista lag in einer Geste inständigen Flehens mit ausgestreckten Armen auf dem Boden. Ihre Finger öffneten und schlossen sich, ihre Nägel waren bis aufs Bett heruntergekaut. Ein Wirrwarr von Nachtgewändern und Tüchern lag um sie verstreut. Die Fülle ihres gekräuselten Haares breitete sich wie ein Fächer um ihr Haupt. Einst war dieses Haar golden gewesen; nun war es vom Alter zu einem fahlen Graubraun gedunkelt. Für einen

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