Chalions Fluch
abseits, fast von gleicher Höhe, erhob sich ein runder Turm drohend an einer Ecke des Hauptgebäudes. Sein Schieferdach war eingestürzt, seine schlanke Spitze geborsten.
»Gute Götter«, entfuhr es Betriz beim Anblick dieser Ruine. »Was ist denn dort geschehen? Warum wird das nicht wieder in Ordnung gebracht?«
»Äh …«, setzte Cazaril an. Unvermittelt sah er sich als Lehrer angesprochen, und das trug mehr zu seiner Bestärkung bei, als dass er an Betriz dachte. »Das ist der Turm von König Fonsa dem Weisen.« Der nach seinem Tod allerdings besser bekannt wurde als Fonsa der Halbwegs-Weise. »Wie es heißt, pflegte er jede Nacht auf diesen Turm zu steigen und den Willen der Götter und die Zukunft Chalions aus den Sternen zu lesen. Eines Nachts wirkte er dort das Wunder eines Todeszaubers gegen den Goldenen Heerführer. Dabei zog ein gewaltiger Sturm heran, und Bündel von Blitzen zerschmetterten das Dach und entfachten ein Feuer, das bis zum Morgen loderte, trotz der herabflutenden Regenfälle.«
Als die Roknari erstmals von der See her eingefallen waren, hatten sie einen Großteil Chalions, Ibras und Brajars beim ersten wilden Ansturm überrannt und waren über Cardegoss hinaus vorgestoßen, bis an den Fuß der südlichen Bergketten. Truppen ihrer Vorhut hatten sogar Darthaca selbst bedroht. Doch aus der Asche der schwächlichen Alten Königreiche und aus der rauen Kinderstube des Hügellandes war ein neues Volk hervorgegangen und hatte über Generationen hinweg darum gekämpft, das wiederzuerlangen, was in jenen wenigen ersten Jahren verloren gegangen war. Diese Menschen waren Krieger und Diebe und begründeten ihre Wirtschaft auf Plünderungen: Das Vermögen eines Edelmannes war nicht erworben, es wurde gestohlen! Das war eine schlichte Umkehrung der Verhältnisse, denn die Roknari verstanden unter Steuereintreibern eine Schlachtreihe von Kriegern, die auf ihren gewundenen Wegen durch das Land alles mitnahmen, was ihnen vor die Schwertspitzen kam, wie ein bewaffneter Heuschreckenschwarm. Bestechung und Gegenbestechung änderten die Marschrichtung dieser Schlachtreihen, bis Chalion schließlich Schauplatz eines sonderbaren, ineinander greifenden Tanzes zwischen bezahlten und zahlenden Bewaffneten wurde. Im Laufe der Zeit jedoch wurden die Roknari wieder nach Norden an die See zurückgedrängt und hinterließen nichts weiter als ein Vermächtnis an Burgen und Grausamkeit. Letztendlich blieben den Invasoren nur noch fünf verfeindete Fürstentümer entlang der Nordküste.
Der Goldene Heerführer, der Löwe von Roknar, wollte diesen Verlauf der Geschichte umkehren. Durch Krieg, Täuschung und Heirat hatte er binnen zehn erbitterter Jahren sämtliche fünf Fürstentümer vereinigt – zum ersten Mal seit der Landung der Roknari. Kaum dreißig Jahre alt, scharte er eine große Zahl Männer unter seinen Befehl und schickte sich an, ein weiteres Mal in den Süden vorzustoßen. Er verkündete, mit Feuer und Schwert die quintarischen Häretiker und die Anbetung des Bastards vom Antlitz der Welt zu tilgen. Verzweifelt und uneins verloren Chalion, Ibra und Brajar gegen diesen Gegner an sämtlichen Fronten an Boden.
Nachdem alltäglichere Mordmethoden fehlge schlagen waren, versuchte man ein Dutzend Mal o der häufiger, den Goldenen Genius mit einem Todeszauber aus dem Weg zu räumen. Doch all diese Bemühungen blieben erfolglos. Nach gründlichen Studien gelangte Fonsa der Weise zu dem Schluss, dass der Goldene Heerführer der Auserwählte eines Gottes sein musste. Kein geringeres Opfer als das eines Königs könnte seine Bestimmung aufwiegen! Fonsa hatte während der Kriege im Norden fünf Söhne und Erben verloren, einen nach dem anderen. Sein letzter und jüngster Sohn Ias war in heftige Gefechte mit den Roknari um die letzten Gebirgspässe verwickelt, die ihrem Vormarsch noch im Weg standen. Und in einer stürmischen Nacht stieg Fonsa auf seinen Turm. Er nahm nur einen Geistlichen des Bastards mit, dem er vertraute, und einen treuen jungen Pagen. Dann verschloss er hinter sich die Tür …
Am nächsten Morgen hatten die Höflinge von Chalion drei verkohlte Körper aus den Trümmern geborgen. Nur durch die unterschiedliche Größe der Leichen konnten sie den Geistlichen vom Pagen und dem König unterscheiden. Erschrocken und verängstigt sah der zitternde Hof seinem Schicksal entgegen. Der Kurier, der von Cardegoss aus nach Norden gesandt wurde, um die Botschaft von Verlust und Trauer zu überbringen, traf
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