Chalions Fluch
Blutspritzern übersät. Dann entspannte er sich wieder beim Anblick des staubigen und schmutzigen dy Sanda, der hinter seinem Zögling dahertrottete. Teidez’ blutrünstiges Aussehen war wohl eher das Ergebnis einer nachmittäglichen Übungsstunde im örtlichen Schlachthof. Und seine aufgeregten Rufe waren nicht Ausdruck von Entsetzen, sondern von Entzücken. Sein rundes Gesicht, der Schwester zugewandt, schimmerte vor Freude.
»Iselle, es ist etwas Wunderbares geschehen. Rate mal, rate!«
»Wie sollte ich das erraten …«, setzte sie lachend an.
Ihr Bruder winkte ungeduldig ab. Die Neuigkeiten drängten über seine Lippen: »Gerade eben ist ein Kurier König Oricos eingetroffen. Wir beide werden aufgefordert, ihn in diesem Herbst bei Hofe in Cardegoss zu besuchen. Und Mutter und Großmutter sind nicht eingeladen! Iselle, endlich können wir aus Valenda fort!«
»Wir reisen zum Zangre?«, rief Iselle erfreut. Sie glitt aus dem Sattel, griff nach den blutigen Händen ihres Bruders und wirbelte mit ihm über den Hof. Betriz stützte sich auf ihren Sattelbaum und sah den beiden zu, den Mund halb offen vor Aufregung und Freude.
Iselles Kammerfrau zeigte einen viel weniger begeisterten Gesichtsausdruck. Cazaril tauschte einen Blick mit Ser dy Sanda. Der Privatlehrer des Prinzen kniff grimmig die Lippen zusammen und schaute finster drein.
Cazaril bekam ein flaues Gefühl im Magen, während ihm allmählich die Konsequenzen dieser Neuigkeiten bewusst wurden. Prinzessin Iselle wurde an den Hof zurückbeordert. Also würde auch ihr kleines Gefolge sie nach Cardegoss begleiten, darunter ihre Zofe, Lady Betriz.
Und ihr Privatschreiber.
7
D
ie Karawane des Prinzen und der Prinzessin näherte sich Cardegoss über die Südstraße. Sie kämpften sich eine Steigung empor. Von dort aus lag die gesamte, von Bergen umrahmte Ebene zu ihren Füßen.
Cazarils Nasenflügel weiteten sich, als er den beißenden Wind atmete. Letzte Nacht hatte ein kalter Regenguss die Luft reingewaschen. Dahinjagende blaugraue Wolkenfelder zerfaserten nach Osten hin und glichen sich dabei den Umrissen der zerklüfteten, dunkelgrauen Bergketten an, die den Horizont einfassten. Von Westen stieß das Licht wie eine Schwertklinge über die Ebene. Der Zangre erhob sich auf einem großen Felsen, der zwischen dem Zusammenfluss zweier Ströme emporragte. Er thronte über den Flüssen, über der Ebene, über den Gebirgspässen und beherrschte den Blick sämtlicher Beobachter. Zu dieser Stunde fing er das Sonnenlicht und glühte wie geschmolzenes Gold vor dem Hintergrund der dunklen Wolkenmassen. Seine ockerfarbenen Türme waren von Schieferdächern gekrönt, deren Farbe jener der dahineilenden Wolken glich und die wie eine Reihe stählerner Helme auf den Häuptern einer kühnen Kriegerschar wirkten. Seit Generationen war der Zangre der bevorzugte Sitz der Könige von Chalion, doch von diesem Aussichtspunkt aus wirkte er ganz wie eine Festung, nicht wie ein Palast – ausschließlich den Bedürfnissen des Krieges angepasst, wie jeder Ritter, der sich den heiligen Orden der Götter verschworen hatte.
Prinz Teidez drängte sein schwarzes Pferd voran bis dicht neben Cazarils Fuchs. Erwartungsvoll starrte er auf das Ziel ihrer Reise, und sein Gesicht leuchtete in einer Art ehrfürchtiger Begierde: Hunger nach dem Versprechen eines ereignisreicheren Lebens, bar jeglicher Beschränkung durch Mütter oder Großmütter, vermutete Cazaril. Doch Teidez hätte schon um einiges dümmer sein müssen, als er aussah, hätte er sich in diesem Augenblick nicht die Frage gestellt, ob dieses strahlende Wunderwerk aus Stein eines Tages ihm gehören könnte. Und tatsächlich: Weshalb hatte man den Jungen an den Hof gerufen, wenn nicht Orico am Ende die Hoffnung auf einen eigenen leiblichen Erben aufgegeben hatte und nun Teidez als seinen Nachfolger heranziehen wollte?
Iselle brachte ihren gescheckten Grauschimmel zum Stehen und schaute ebenso erwartungsvoll wie ihr Bruder. »Merkwürdig. Ich hatte es irgendwie größer in Erinnerung.«
»Dann wartet, bis wir näher kommen«, empfahl Cazaril ihr trocken.
Ser dy Sanda, der den Zug anführte, winkte sie voran, und die Kolonne aus Reitern und Packtieren setzte sich wieder in Bewegung, die schlammige Straße hinab: die beiden königlichen Geschwister mitsamt den sie behütenden Privatschreibern, dann Lady Betriz, gefolgt von Dienstboten, Pferdeknechten und einer bewaffneten Eskorte in der grün-schwarzen Livree
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