Chalions Fluch
Zangre«, erklärte Cazaril, »konnte noch nie im Sturm genommen werden.«
»Ich verstehe«, hauchte Betriz.
Einige dahintreibende gelbe Blätter, Vorboten des nahen Herbstes, wurden wirbelnd den dunklen Fluss hinabgetragen. Die Reisegesellschaft drängte ihre Pferde voran und stieg aus dem Tal hinauf, bis sie an eine Stelle gelangte, wo sich ein großer, steinerner Bogen über den Strom wölbte und zu einem der sieben Stadttore führte. Cardegoss teilte mit der Burg das vom Fluss gebildete Plateau. Die Stadtmauern verliefen in Form eines Bootes entlang der Schlucht, mit dem Zangre am Bug; dann schwangen sie herum und mündeten in einem langen Wall, der das Heck bildete.
Im hellen Licht dieses frischen Nachmittags hatte die Stadt nichts Unheilvolles. Nahrungsmittel und Blumen wurden auf den Plätzen und entlang der Seitenstraßen feilgeboten, in die die Reisenden einen flüchtigen Blick werfen konnten. Und überall waren Menschen: Bäcker und Geldverleiher, Weber und Schneider, Goldschmiede und Sattler boten ihre Waren an und teilten sich den Platz mit anderen Geschäften und Handwerkern, die nicht wegen ständigen Bedarfs an fließendem Wasser am Fluss tätig sein mussten.
Die königliche Gesellschaft ritt über den Tempelplatz, an dessen fünf Seiten jeweils einer der regionalen Hauptsitze der Heiligen Kirchen der Gottheiten lag. Geistliche, Akolythen und Ordensleute schritten zielstrebig umher; sie sahen eher geplagt und amtlich aus als asketisch. Im ausgedehnten gepflasterten Zentrum des Platzes erhob sich der wuchtige örtliche Tempel der Heiligen Familie in der vertrauten Kleeblatt-und-Turm-Form, doch war er in beeindruckendem Maße größer als die heimelige, bescheidene Variante des Tempels, die in Valenda zu finden war.
Teidez konnte seine Ungeduld kaum verbergen, als Iselle darauf bestand, hier einen kurzen Halt einzulegen. Sie ließ Cazaril ins riesige Innere des Tempels eilen, damit er dort eine Opfergabe auf den Altar der Frühlingsherrin legte: ein paar Münzen, als Dank für die sichere Reise. Ein Akolyth nahm sich dankbar der Spende an und beäugte neugierig den Überbringer. Cazaril murmelte ein rasches, flüchtiges Gebet und eilte zu seinem Reittier zurück.
Während sie der sanften Steigung hinauf zum Zangre folgten, kamen sie durch die Straßen, in denen die Häuser des Adels standen. Diese Gebäude waren aus behauenen Steinen gefertigt und besaßen kunstvolle Eisengitter vor Fenstern und Türen. Dicht an dicht dräuten sie am Straßenrand, hoch aufragend und mit kantigen Konturen. In einem dieser Bauwerke hatte die Königinwitwe gewohnt, kurz nach dem Tod ihres Mannes. Aufgeregt bezeichnete Iselle nachein ander drei Anwesen, die möglicherweise das Heim ihrer Kindheit waren, bis sie vollends den Überblick verlor und Cazaril das Versprechen abnahm, dass er später das richtige Gebäude ausfindig machte.
Schließlich erreichten sie das große Tor zum Zangre selbst. Ein natürlicher Einschnitt erweiterte sich unmittelbar davor zu einer schroffen, schattigen Spalte, die einschüchternder war als jeder Burggraben. Auf der gegenüberliegenden Seite bildeten gewaltige Felsbrocken die Basis der Befestigungswälle: Sie waren unregelmäßig geformt, aber so sorgfältig ineinander gefügt, dass man keine Messerklinge dazwischenschieben konnte. Auf diesem Fundament erhoben sich die kunstfertigen Aufmauerungen der Roknari, deren zartes Filigranmuster aus geometrischen Verzierungen eher wie Zucker wirkte als wie Stein. Darüber war noch präziser geschnittener Stein verarbeitet und türmte sich höher und höher empor, als wollten die Menschen sich mit den Göttern messen, die den großen Felsen hatten wachsen lassen, auf dem das gesamte Bauwerk stand. Der Zangre war die einzige Burg, in der Cazaril Höhenangst und Schwindelanfälle bekam, wenn er am Fuße der Mauern stand und hinauf blickte.
Ein Horn erschallte von oben, und Soldaten in der Uniform des Königs Orico salutierten, als die Neuankömmlinge die Zugbrücke überquerten und durch den engen Torweg in den Innenhof ritten. Lady Betriz packte die Zügel und blickte sich offenen Mundes um. Ein massiger, rechteckiger Turm beherrschte den Hof, das neueste und makelloseste Gebäude der Festung, eine Ergänzung, die während der Herrschaft von König Ias und Lord dy Lutez hinzugekommen war. Cazaril hatte sich stets gefragt, ob die beeindruckende Größe dieses Turms ein Ausdruck menschlicher Stärke oder der Ängste des Menschen war. Ein wenig
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