Chalions Fluch
Cazaril unsicher an.
»Ja, ja, einen Augenblick …« Mit einiger Anstrengung beugte Orico sich über seinen Bauch, um noch einmal die Katze zu umarmen und anschließend eine silberne Kette am Halsband des Tieres einzuhaken. Mit einigen weiteren trällernden Lauten brachte er das Tier dazu, mit einem leichtfüßigen Sprung den Tisch zu verlassen. Der König erhob sich sehr viel schwerfälliger und meinte: »Hier, Umegat.«
Umegat war offensichtlich der Name des Tierpflegers, nicht der Name der Raubkatze, denn der Mann trat vor und nahm die silberne Leine im Austausch gegen das Schreiben entgegen. Er führte das Tier zu seinem Käfig, ein kurzes Stück den Gang hinunter. Als die Katze kurz stehen blieb, um sich an den Gitterstäben zu reiben, schob er sie ziemlich rüde mit einem Knie am Hinterteil weiter. Als der Pfleger den Käfig verschloss, atmete Cazaril erleichtert auf.
Orico erbrach das Siegel und verstreute dabei Wachs über den frisch gefegten Fliesenboden. Abwesend bedeutete er Cazaril, sich zu erheben, während er mühsam die krakelige Handschrift der Herzogin entzifferte. Dann und wann führte er die Seite dichter vor die Augen, hielt sie etwas weiter weg o der zwinkerte angestrengt. Ganz von selbst nahm Cazaril wieder die altgewohnten Verhaltensweisen eines Kuriers an. Er faltete die Hände hinter dem Rücken und wartete geduldig, bis Orico ihm nach Belieben weitere Fragen stellte oder ihn entließ.
Während er wartete, musterte Cazaril den Tierpfleger – oder war er der Verwalter der Menagerie? Der Mann war ohne Zweifel roknarischer Abstammung, selbst wenn man den Namen außen vor ließ. Umegat war einst ziemlich groß gewesen, ging inzwischen aber ein wenig gebeugt. Seine Haut, die in seiner Jugend goldbraun gewesen sein musste, war inzwischen ledrig und zum Farbton von Elfenbein gebleicht. Runzeln umkränzten seine Augen und seinen Mund. Sein lockiges, bronzefarbenes Haar ergraute bereits und war fest um den Kopf gebunden, in zwei Zöpfen, die sich von den Schläfen über den Scheitel wanden und im Nacken zusammenliefen – eine traditionelle Frisur der Roknari. Offenbar war er reinblütig, obwohl es zahlreiche Mischlinge in Chalion gab. König Orico selbst hatte einige Roknari-Prinzessinnen in seinem Stammbaum, sowohl seitens seiner Vorfahren aus Chalion wie auch von denen aus Brajar. Die Spuren dieser Ahnen zeigten sich im Haar der Familie. Der Pfleger trug die Dienstlivree des Zangres, eine Tunika, Gamaschen und einen knielangen Überwurf mit dem aufgenähten Wappen von Chalion, einem majestätischen Leoparden, drohend aufgerichtet über einer stilisierten Burg. Der Mann sah um einiges gepflegter und anspruchsvoller aus als sein Herr.
Orico beendete den Brief und seufzte. »Königin Ista war aufgebracht, nicht wahr?«, sagte er zu Cazaril.
»Natürlich war sie ein wenig beunruhigt über die Trennung von ihren Kindern«, erwiderte Cazaril vorsichtig.
»Das hatte ich befürchtet. Aber man kann es nicht ändern. Besser, sie ist in Valenda beunruhigt als in Cardegoss. Ich möchte sie nicht hier haben, sie ist zu … schwierig.« Er rieb sich mit dem Handrücken ü ber die Nase und schniefte. »Berichtet Ihrer Hoheit, der Herzogin, dass sie meiner tiefsten Wertschätzung gewiss sein kann. Versichert Ihr, dass ich das Wohlergehen und die Zukunft ihrer Enkelkinder zu meinem persönlichen Anliegen gemacht habe. Sie genießen den Schutz ihres Bruders.«
»Ich möchte ihr noch heute Abend schreiben, Majestät, um sie von unserer sicheren Ankunft in Kenntnis zu setzen. Ich werde Eure Botschaft übermitteln.«
Orico nickte, rieb sich erneut die Nase und blinzelte Cazaril an. »Kenne ich Euch?«
»Ich … ich glaube nicht, Majestät. Erst vor kurzem wurde ich von der Herzoginwitwe zum Privatschreiber der Prinzessin Iselle ernannt. In meiner Jugend diente ich dem verstorbenen Herzog von Baocia als Page«, fügte er erklärend hinzu. Seinen Dienst im Gefolge des Herzogs dy Guarida erwähnte er nicht, denn das hätte weniger weit zurückliegende Erinnerungen des Königs anstoßen können. Obwohl er nie mehr gewesen war als ein Gesicht in der Menge der Gefolgsleute dy Guaridas. Ein gewisses Maß an ungewollter Verkleidung gewährte ihm wohl auch sein neuer Bart, die grauen Strähnen in seinem Haar und seine allgemeine Schwäche – wenn Orico ihn nicht mehr erkannte, bestand dann die Hoffnung, dass es anderen genauso erging? Cazaril fragte sich, wie lange er hier in Cardegoss vermeiden konnte, seinen
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