Champagner-Fonds
Kerl Kreide gefressen – oder hatte Langer sie ihm zu fressen gegeben?
»Sie wollten sich noch einmal mit mir treffen. Können Sie nach Reims kommen in unser lokales Organisationsbüro? Die Unterlagen der verschiedenen Fonds werden hier aufbewahrt, zwar nur als Kopie, aber Sie werden einen guten Eindruck, äh ... Überblick gewinnen.«
Sofort sagte Philipp zu, die Gelegenheit musste er nutzen, Reims war nicht weit.
»Wissen Sie, wo Champagne Jacquart ist, nein? Sie fahren bis zum Place de la République, dort stellen Sie Ihren Wagen ab und gehen in die Rue de Mars. Wenn Sie die Mosaiken oben an der Giebelwand der Kooperative Jacquart sehen, gehen Sie etwa hundert Meter bis zur Ecke. Auf der rechten Seite finden Sie uns.«
Philipp benötigte eine Stunde, bis er den Parkplatz an den Hautes Promenades im Westen der Stadt gefunden hatte. Die Rue de Mars nahm ihren Anfang an der Markthalle, und keine fünf Minuten später stand er vor den Fresken.
Der Eingang zu Champagne Jacquart, einer Kooperative im Besitz von sechshundert Winzern, glich den Rundbögen des Art déco, des Stils, in dem das im Ersten Weltkrieg zerstörte Reims wieder aufgebaut worden war. Unter dieser Stadt existierte seit Jahrhunderten ein System von Kellern, Gängen, Stollen und Tunneln. Mit ihrem Bau hatten die Römer begonnen und dort Material für Wehranlagen herausbrechen lassen. Darin hatte die Bevölkerung von Reims den grauenhaften Beschuss durch die deutsche Artillerie überlebt, während überirdisch die Stadt des »Erbfeindes« fast dem Erdboden gleichgemacht wurde. Einhundertzwanzigtausend Menschen hatten 1914 hier gewohnt, fünf Jahre später waren es keine zwanzigtausend mehr. Heute, und das war für Philipp ein beruhigender, aber in geschäftlicher Hinsicht beunruhigender Gedanke, lag in den ehemaligen Steinbrüchen und Schutzräumen ein Bruchteil der 1,2 Milliarden Flaschen der Champagne. Bei Jacquart sollten es allein drei Millionen sein, in mehreren Tunnelsystemen übereinander.
Unterhalb des Daches zogen sich die Mosaiken als gewaltiges Fries über die gesamte Breite der Fassade: Es waren die Szenen der Champagnerherstellung in fünf Bildern, von derWeinlese übers Etikettieren bis zum Verpacken der Champagnerflaschen in strohgepolsterten Holzkisten – Bilder einer Zeit, als alles von Hand geschah. Romantischer als die vollautomatische Bearbeitung war es in der guten alten Zeit allemal gewesen, nur ging Handarbeit meist mit Schmerzen, Verletzungen, Armut und Elend einher. Die Gegenwart brachte Arbeitslosigkeit, und was die Zukunft bringen könnte, würde sich in den nächsten Minuten zeigen.
Touraine begrüßte ihn lächelnd mit Handschlag, offerierte Kaffee, stellte ein gemeinsames Mittagessen im berühmten »Café du Palais« in Aussicht und bot als Erstes ein Glas Champagner an. »Damit wir uns aufs Thema einstimmen.« Zu seinem Verhalten passte seine Kleidung. Statt eines strengen Anzugs trug er eine braune Cordhose, ein weißes Hemd und darüber einen weichen, weinroten Mohairpullover, eine Farbe und ein Material, das den Augen guttat.
Wer ihn nicht anders kannte, hätte meinen können, dass Touraine ein reizender und zuvorkommender Zeitgenosse war. Seine schauspielerischen Fähigkeiten waren beeindruckend. Die Büroeinrichtung konnte sich sehen lassen, obwohl die Schreibtische, Rollschränke und Aktenböcke sicherlich aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammten. Damals waren Möbel häufig noch aus massivem Holz gefertigt worden, und die Zeit hatte ihnen eine schöne dunkle rotbraune Tönung verliehen. Die Fotos an den Wänden glichen den Szenen auf den Mosaiken, nur lagen fünfzig Jahre technischen Fortschritts dazwischen. Wer dieses Büro eingerichtet hatte, hatte Geschmack bewiesen.
»Das verdanken wir Mister Goodhouse«, sagte Touraine auf Philipps Lob hin. »Ich will gleich zum Kern Ihrer Fragen vorstoßen. Die Verteilung der Champagner im Fonds entspricht der allgemeinen Struktur der Champagne: Wir führen Winzer, Kooperativen und die Champagner der großen Häuser. Wir versuchen uns auf Produkte zu konzentrieren, bei denen wir in den verschiedenen Ländern über Jahreeinen konkreten Wertzuwachs feststellen konnten. Steigt der Preis, verkaufen wir, fällt der Preis, dann kaufen wir ein, wir erhöhen die Warenbestände des Fonds und damit seinen Wert und die Sicherheit für die Anleger. Sie kennen bestimmt den Londoner Liv-ex Fine Wine Index? So etwas wie den deutschen Aktienindex DAX für Wein? Der
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