Charles Dickens
Düsternis vor den Augen des Lesers ab. Wie in
Harte Zeiten
ist alles auf den thematischen Kern konzentriert, der in diesem Fall in der Erbschaftsbewältigung besteht. Das lässt auch hier die Symbolik zur Allegorie hin tendieren. Wenn z.B. die unablässig strickende Madame Defarge die Namen von Schuldigen nach einem geheimen Code in ihr Gewebe strickt, dann erscheint sie sowohl als personifizierte Rachsucht wie auch als Norne, die die Lebensfäden anderer Menschen in Händen hält.
Allegorisch auf eine geradezu aufdringliche Weise wirken Szenen wie die, in der das Blutbad der Revolution lange vor deren Ausbruch bereits im fünften Kapitel des Romans durch ein zerbrochenes Weinfass und das Bild der von Rotwein überschwemmten Straße vorausgedeutet wird. Auch die Namensgebung hat etwas Allegorisches, wenn beispielsweise der französische Verwalter, dessen Hilferuf das verhängnisvolle Geschehen ins Rollen bringt, Gabelle heißt, was das französische Wort für jene Salzsteuer ist, die die Wut des Volkes erregte und ein wesentlicher Anstoß zur Revolution war. Besonders raffiniert ist dieNamensgebung bei Darnays aristokratischer Familie, die St. Evrémonde heißt, was eine Zusammenziehung aus E
veryman
und
Toutlemonde
ist, dem englischen und dem französischen Wort für ‹Jedermann›. Damit verklammert Dickens die Geschichte beider Nationen, weist der Aristokratie die Hauptschuld an der Revolution zu und zeigt durch die Hinzufügung von St. für ‹Sankt› auch noch die Mitschuld der Kirche an. Ganz zum Schluss, als die rachsüchtige Madame Defarge auch noch Darnays Frau und ihre kleine Tochter bedroht, lässt Dickens deren Kindermädchen Miss Pross als Repräsentantin englischer Freiheitsliebe und Rechtschaffenheit einschreiten, indem sie die Rächerin, die in das Apartement eindringt, aus dem Lucie mit ihrer Tochter bereits geflohen ist, hinhält, um Zeit zu gewinnen. Dabei kommt es zu einem Handgemenge, bei dem das wackere Kindermädchen mit dem Ruf «Ich bin eine Britin!» ihre Gegnerin niederringt, die sich dabei unfreiwillig erschießt. Danach verschließt Miss Pross das Haus, geht zur Brücke und wirft den Schlüssel in die Seine. Das wirkt wie ein symbolischer Akt, der das zwischen Gefängnis, Wasser und Erbschaft entfaltete Problem endgültig löst und buchstäblich abschließt.
Die zwischen Symbolik und Allegorie schwankende Bildersprache gibt diesem Roman etwas Gekünsteltes. Umso erstaunlicher ist, dass er trotzdem lange Zeit Dickens’ meistgelesener war. Die nächstliegende Erklärung dafür ist, dass er sowohl die Erwartungen der sensationshungrigen Leser der unteren Mittelschicht als auch das Verlangen nach Ernsthaftigkeit und ethischen Werten auf Seiten der Gebildeten befriedigte. Kaum ein anderes Motiv hat im viktorianischen Publikum mehr moralische Befriedigung ausgelöst als das Selbstopfer. Die Literatur der Epoche ist voll von Menschen, die zugunsten eines anderen auf einen geliebten Menschen verzichten und im äußersten Fall sogar für ihn ihr Leben opfern. Das erklärt auch den großen Erfolg von
The Frozen Deep
, wo dies im Zentrum stand. Das vorige Kapitel schloss mit der Vermutung, dass Dickens sich in Darnay und Carton ein doppeltes
alter ego
geschaffen habe, ähnlich wie in
David Copperfield
, nur klarer akzentuiert. Charles Darnay, der anfangs als der moralisch Starke auftritt, gerät in eine Situation äußerster Ohnmacht, während Sydney Carton, der als psychischer Schwächling beginnt, zuletzt das moralisch machtvolle Selbstopfer vollbringt. In ihm sahen die Viktorianer einen der edelsten Helden der gesamten Romanliteratur.
Gad’s Hill place
Anfang 1860 bis August 1861
Auf Dickens’
Geschichte zweier Städte
folgte in seiner Zeitschrift der äußerst spannende Detektivroman
The Woman in White
(
Die Frau in Weiß)
seines Freundes Wilkie Collins. Damit hatte er selber eine kreative Atempause. Die Zeitschrift florierte und übertraf die Auflage ihrer Vorgängerin bei weitem, was zu einem nicht geringen Teil das Verdienst von W. H. Wills war, der zwar nur 25 Prozent der Anteile hielt, aber als Geschäftsführer vor Ort den Vertrieb organisierte. Wills hatte noch vor Erscheinen der ersten Nummer 300.000 Reklamezettel verteilen lassen, was ihr einen Absatz von 125.000 Exemplaren bescherte. Dickens selber hielt 75 Prozent der Betriebsanteile und war alleiniger Eigentümer des Namens und des Goodwills der Zeitschrift, die ihm ein laufendes Einkommen von durchschnittlich 2750 Pfund
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