Charles Dickens

wichtig; denn nur wenn das Publikum rechtzeitig zurückgeholt wurde, war auch für die obligate Weihnachtsnummer ein hoher Absatz gesichert. Die erzwungene Eile hatte auch ihr Gutes:
Great Expectations (Große Erwartungen)
, so der Titel des neuen Werkes, wurde Dickens’ kompaktester Roman und gilt deshalb in den Augen vieler Kritiker als sein Meisterwerk.
    Um für Beiträge zur Weihnachtsnummer nach Motiven mit Lokalkolorit zu suchen, unternahm er am 1. November mit Wilkie Collins eine fünftägige Reise durch Devon und Cornwall. Danach wimmelteer alle sozialen Verpflichtungen ab und konzentrierte sich ganz darauf, die Zeitschrift wieder auf Kurs zu bringen. Bei der Weihnachtsnummer überließ er die Hauptarbeit dem jungen Freund, während er selber sich daran machte, 17 Beiträge zu
All the Year Round
unter dem Titel
The Uncommercial Traveller (Der Reisende ohne Geschäft)
zusammenzufassen und am 15. Dezember bei Chapman & Hall als Buch herauszubringen. Den gerade begonnenen Roman konnte er wie
A Tale of Two Cities
an
Harper’s Weekly
nach Amerika verkaufen, wobei das Honorar mit 1250 Pfund diesmal noch höher ausfiel. Inzwischen war der Absatz seiner Zeitschrift zum früheren Niveau zurückgekehrt. Damit hatte er wieder Spielraum für öffentliche Lesungen. Im März und April 1861 gab er zunächst sechs in London. Doch für die zweite Jahreshälfte, nach Abschluss des Romans, plante er bereits eine Tour mit 46 Lesungen in der Provinz.
    Nachdem er im Frühjahr mehrfach über gesundheitliche Probleme geklagt hatte, gestattete er sich im Mai drei Erholungstage an der Küste von Dover, wo er sich in langen Wanderungen ausarbeitete. Dann ging es zurück an den Schreibtisch, und am 11. Juni war der letzte Satz des Romans zu Papier gebracht. Vier Tage später nahm er seine Töchter Mamie und Katey mit zu einem kurzen Besuch bei Bulwer-Lytton. Der Baron hatte zu Dickens’ großer Freude zugesagt, unter dem Titel
A Strange Story (Eine seltsame Geschichte)
den Anschlussroman für die Zeitschrift zu schreiben, für den ihm Dickens das ungewöhnlich hohe Honorar von 1500 Pfund anbot. Nachdem am 3. August die letzte Fortsetzung von
Große Erwartungen
erschienen war, gelang es dem Nachfolger sogar, die Auflage der Zeitschrift um weitere anderthalb Tausend zu steigern. In Bulwer-Lyttons Roman geht es um übernatürliche Geschehnisse, die selbst Dickens als
weird
empfand, was soviel wie ‹unheimlich mit einem Stich ins Überdrehte› bedeutet.
    Mit der stetigen Ausweitung des Lesepublikums hatte sich auch der Geschmack der Mehrheit verändert. Jetzt gewannen spannende Handlungen und sensationelle Kolportagen immer mehr an Bedeutung. Während die nach dem Londoner Strafgefängnis benannten
Newgate novels
der 1830er Jahre, zu denen Bulwer-Lyttons frühe Romane
Paul Clifford
(1830) und
Eugene Aram
(1834) gehörten, einen klaren Realitätsbezug mit sozialkritischer Stoßrichtung hatten, trat jetzt mehr und mehr das Sensationelle in den Vordergrund, weshalb man diesen ab1860 aufkommenden Romantyp als
novel of sensation
bezeichnet. Bald danach sollten Abenteuerromane wie die von Rider Haggard und Detektivgeschichten wie die von Arthur Conan Doyle den Markt überschwemmen. Manche dieser Autoren erreichten Auflagenzahlen, die die von Dickens weit in den Schatten stellten. So wurden beispielsweise von dem 1861 erschienenen Roman
East Lynne
der Autorin Mrs. Henry Wood (1814–1887) bis 1900 2,5 Millionen Exemplare verkauft. Es zeugt von Dickens’ künstlerischem Rang, dass er die Konkurrenz mit den Autoren solcher Sensationsromane aufnahm, ohne dabei der Tendenz zum Trivialen nachzugeben.
    Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, wie es Dickens gelang, einerseits seine Aktivitäten als Autor, Herausgeber seiner Zeitschrift und Rezitator eigener Werke im Licht der Öffentlichkeit zu betreiben, während er gleichzeitig bestrebt sein musste, sein Liebesverhältnis geheim zu halten. Denn anders als sein Freund Wilkie Collins, der als notorischer Bohemien ungestraft mit Maitressen uneheliche Kinder zeugen konnte, galt er selber als moralische Autorität, der man solche Fehltritte nicht verziehen hätte. Die akribische Spurensuche seiner Biographen hat zwar genügend Hinweise auf Besuche bei seiner Geliebten ergeben, doch die dokumentierten Zeiten seiner Präsenz in der Öffentlichkeit zeigen so enge Lücken, dass unromantische Leser sich fragen werden, wie jemand für so seltene Genüsse von Liebesglück so hohe Risiken eines