Charles Dickens
trennte, mit einem noch radikaleren: Wenig später verbrannte er im Garten von Gad’s Hill alle Briefe, die sich bei ihm angesammelt hatten. In diesem Autodafé wird deutlich, wie sehr die Last der Vergangenheit, die in seinen Romanen so obsessiv als Erbschaftssymbolik erscheint, ein Problem seiner eigenen Psyche war.
Dickens und Charles Fechter. Unveröffentlichte Karikatur von Alfred Bryan.
Die Schar seiner alten Freunde hatte sich inzwischen weiter gelichtet. Douglas Jerrold war bereits 1857 gestorben; Leigh Hunt und Frank Stone starben 1859. Mit Thackeray hatte er gebrochen, und auch der treue Hablot K. Browne, der einst als Phiz wie ein siamesischer Zwilling von Boz angesehen wurde, war bei ihm in Ungnade gefallen. Browne hatte eine Stelle bei
Once a Week
angenommen, einem Magazin, das Bradbury & Evans gehörte, von denen sich Dickens im Streit getrennt hatte. Da er von seinen Freunden erwartete, dass sie seine Gegner auch als die ihren ansahen, ließ er die Beziehung zu Phiz einschlafen. So blieb
A Tale of Two Cities
der letzte von Browne illustrierte Roman. Dagegen nahm Dickens’ Freundschaft zu Macready eher zu; denn der hatte in den zurückliegenden Jahren nacheinander seine Frau, seine Schwester und sechs Kinder durch Schwindsucht verloren und danach mit 67 eine erst 23 Jahre alte Frau geheiratet, was im Freundeskreis mit Süffisanz kommentiertwurde. Dickens aber – aus begreiflichen Gründen – verteidigte den Freund und freute sich mit ihm, als dem ungleichen Paar 1862 ein Sohn geboren wurde.
Das Chalet aus der Schweiz. Zeitgenössischer Stich.
Während die Zahl der alten Freunde abnahm, wuchs die der jüngeren. Zu Wilkie Collins und Edmund Yates, die Dickens schon länger kannte, kam der Ire Percy Fitzgerald, den er 1858 auf seiner Lesetour in Dublin kennengelernt hatte. Als sich 1860 der deutsche Schauspieler Karl Fechter in London niederließ, mit dem Dickens schon in Paris Freundschaft geschlossen hatte, gehörte auch er zu den gern gesehenen Gästen in Gad’s Hill. Fechter machte dem bewunderten Dichter 1865 ein ungewöhnliches Geschenk, nämlich ein in 94 Teile zerlegtes Schweizer Chalet, das Dickens auf seinem Grundstück aufbauen ließ und das er gern als Rückzugsort für ungestörtes Arbeiten nutzte. Es war der Dank dafür, dass er den Schauspieler 1863 bei der Übernahme des Lyceum-Theaters finanziell unterstützt hatte. Da zwischen dem Wohnhaus und dem Chalet eine Straße durch das Grundstück führte, ließ Dickens später einen Tunnel graben, um sich jederzeit ungestört in seine Eremitage zurückziehen zu können.
Mehr als eine kurze Sommerpause gönnte sich Dickens im Jahr 1860 in seiner ländlichen Idylle nicht. Die letzte Folge von Collins’
Frau in Weiß
war erschienen, und nun verlangte die Zeitschrift nach einem ebenso attraktiven neuen Roman. Schon lange vorher hatte er bei Mary Ann Evans vorgefühlt, die unter dem Pseudonym George Eliot schrieb und nach ihrem Erstling
Scenes From Clerical Life
(
Szenen aus dem Pfarrhaus)
mit
Adam Bede
(1859) einen allgemein hochgeschätzten Roman vorgelegt hatte. Doch sie konnte sich für eine Publikation in Fortsetzungen nicht erwärmen. Auch von Elizabeth Gaskell bekam er eine Absage. Ihr kritischer Realismus wäre nach Collins’ spannendem Kriminalroman beim Publikum wohl auch nicht gut angekommen. Dickens’ Technik der szenischen Präsentation eignete sich für die Publikation in Fortsetzungen geradezu ideal, ebenso die detektivische Handlungsstruktur, die Collins in noch reinerer Form nutzte, doch die Gesellschaftsromane von George Eliot und Mrs. Gaskell hätten das Interesse der Zeitschriftenleser wohl bald erlahmen lassen.
Zur Überbrückung ließ Dickens erst einmal
A Day’s Ride
:
A Life’s Romance
von Charles Lever erscheinen. Doch diese Erzählung zog die Auflage so sehr nach unten, dass er nun selber in den Ring steigen musste. Ursprünglich hatte er an einen neuen Roman in monatlichen Fortsetzungen gedacht, was er als die angenehmste Publikationsform empfand. Im August ließ er sich dafür mögliche Stoffe durch den Kopf gehen und Mitte September glaubte er den geeigneten gefunden zu haben. Doch als er das Fiasko der sinkenden Verkaufszahlen seiner Zeitschrift sah, war er genötigt, das neue Romanprojekt auf wöchentliche Fortsetzungen umzustellen. Er schaffte auch das und hatte bereits Ende Oktober die ersten vier Fortsetzungen fertig, so dass der Roman ab 1. Dezember erscheinen konnte. Das war außerordentlich
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