Charles Dickens
gefolgt ist.
Am Ende kommt es zu einer Aufklärungsszene, die an Agatha Christie erinnert. Vendales Anwalt macht Obenreizer das Angebot, die Anklage wegen Mordversuchs und Unterschlagung fallen zu lassen, wenn dieser auf alle vormundschaftlichen Rechte gegenüber Marguerite verzichtet. Obenreizer willigt ein und präsentiert als Dank Dokumente, die beweisen, dass Vendale selber der wahre Sohn der unglücklichen Mutter und damit ihr rechtmäßiger Erbe ist. Just als Vendale und Marguerite in der Kirche von Brieg in der Schweiz heiraten, wird auf einer Bahre der von einer Lawine getötete Obenreizer vorbeigetragen. Taktvolle Menschen sorgen dafür, dass eine Begegnung des Hochzeitszugs mit den Leichenträgern vermieden wird. Damit wird die von unwahrscheinlichen Koinzidenzen strotzende Handlung durch ein ebenso unglaubwürdiges Dénouement beendet.
Die Geschichte enthält typische Motive, die in Dickens’ Romanen oft wiederkehren. Da ist zunächst einmal das Erbschaftsmotiv, das hier noch zusätzlich um die Vertauschung der Identitäten angereichert ist. Aber auch das kennt man bereits aus
Unser gemeinsamer Freund
. Im selben Roman gibt es die Szene, in der Lizzie Hexam ihren schwerverletzten Geliebten Wrayburn rettet, als dieser von seinem Rivalen Headstone mit Mordabsicht niedergeschlagen wurde. Das ähnelt Vendales Rettung durch Marguerite. Auch bei weiteren Figuren der Geschichte wird man Familienähnlichkeiten mit Charakteren aus den Romanen finden. Was der Geschichte aber weitgehend fehlt, ist diesymbolische Tiefenstruktur. Hier wird Vendale nur aus dem Schnee gerettet, ohne dass dies wie bei Wrayburn ein Regenerationserlebnis bedeutet. Auch für Walter Wilding ist die Erlösung aus dem Waisenhaus keine Sprengung eines Gefängnisses. Stattdessen bietet die Erzählung eine Handlung, deren allzu bewusste Zuspitzung auf sensationelle Höhepunkte trivial anmutet, da sich dahinter keine psychische Entwicklung erkennen lässt.
Aus Dickens’ Feder stammen nur die Ouvertüre und der dritte Akt. Wilkie Collins schrieb den zweiten; am ersten und vierten arbeiteten beide gemeinsam. Der Gesamteindruck ist eher der eines Werkes von Collins. Trotzdem wirkt die Erzählung unter Dickens Werken nicht wie ein Fremdkörper. Im Gegenteil, sie zeigt das nackte stoffliche Skelett, das in den Romanen mit poetischem Fleisch umgeben und zu dauerhaftem Leben erweckt wird. Im Kanon der Dickensschen Werke wird man sie deshalb nicht vermissen. Sie ist aber besonders geeignet, um zu veranschaulichen, was Dickens in seinen Romanen aus krudem Material machte, und sie zeigt zugleich, was aus den Romanen geworden wäre, wenn er sie nach Art dieser Erzählung geschrieben hätte.
Gerade wegen der Reduzierung auf das Handlungsskelett lässt die Erzählung besonders scharf das hervortreten, was im Vorwort dieses Buches mit einem Zitat aus Forsters Biographie als Dickens’ «Lieblingstheorie» bezeichnet wurde, nämlich seine Vorstellung von der «Kleinheit der Welt», die ihn «auf Koinzidenzen, Ähnlichkeiten und Überraschungen im Leben» besonders gern zu sprechen kommen ließ. In keinem seiner Romane gibt es auf so engem Raum so viele unwahrscheinliche Koinzidenzen wie in dieser Erzählung. Ist es schon unglaubhaft, dass sich ausgerechnet jene Pflegerin aus dem Findelhaus bei Wilding bewirbt, mit der seine Mutter vor Jahrzehnten ein einziges Mal für Minuten zusammentraf, so ist noch unwahrscheinlicher, dass dann auch noch der richtige Sohn zufällig Teilhaber des falschen wird und dass ausgerechnet ein betrügerischer Handelspartner der Firma die entsprechenden Dokumente entdeckt und sich aneignet.
Nun taucht aber Dickens’ «Lieblingstheorie» wörtlich in der Erzählung auf, und zwar in einem für Dickens’ Weltsicht bezeichnenden Kontext. Nachdem Obenreizer schon vorher wiederholt auf die «Kleinheit der Welt» zu sprechen kam, erinnert sich Vendale an diese Formel just in dem Moment, als er mit seinem Begleiter in der Schweiz einGespräch führt, das typischerweise am Ufer des Rheins stattfindet, wo das Rauschen des Wasserfalls in ihm Kindheitserinnerungen weckt. Noch viel typischer ist die Szenerie, mit der der erste Akt einsetzt. Hier wird das in einer «Sackgasse» – daher der doppelsinnige Titel – liegende Weinhaus Wilding & Co. als ein unmittelbar an die Themse angrenzendes Gebäude beschrieben. In der Beschreibung des Areals und in dem Namen Break-Neck-Stairs wird jeder Dickenskenner ein Echo der Schuhwichsfabrik von
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