Charles Dickens
Lesung zu Lesung zu taumeln schien, fand er dazwischen immer noch Zeit, lange Briefe an Forster, seine Schwägerin und seine Töchter und an seine Freunde Macready und Charles Fechter zu schreiben. Als die Tour endlich zu Ende war, wurde ihm zu Ehren am 18. April in New York ein großes Abschiedsbankett gegeben.
Dann trat er am 22. April völlig erschöpft die Heimreise auf der
Russia
an. Der Reinertrag der Tournee hätte sich auf 38.000 Pfund belaufen;doch da Dickens dem Umtauschkurs des Dollars nicht traute, zog er es vor, sich in Gold auszahlen zu lassen. Damit reduzierte sich der Gewinn auf rund 20.000 Pfund. Um ein Haar hätte sein Manager und Finanzverwalter Dolby davon sogar noch Steuern abführen müssen; denn obwohl Dickens vorher Steuerfreiheit zugesichert worden war, wollte die Behörde in New York den ausreisenden Dolby wegen Steuerhinterziehung festnehmen. Mit Glück und Geschick konnte der sich zusammen mit Dickens und dessen Team auf das Schiff retten.
Dickens in seinen Figuren. Amerikanische Karikatur.
Unter den amerikanischen Zeitzeugen, die Dickens als Vortragskünstler erlebt und darüber berichtet haben, ist Mark Twain der interessanteste. Er war bei der Lesung am 31. Dezember in New York anwesend und schrieb darüber in einem Brief an die Zeitschrift
Alta California
. Vom größten amerikanischen Humoristen hätte man eine positive Würdigung seines britischen Kollegen erwartet. Doch das Bild, das er in seiner gewohnt launigen Art zeichnet, ist das eines gravitätisch das Podium besteigenden alten Herrn, der mit heiserer, recht monotoner Stimmevorträgt und dabei das Pathos seiner Texte ohne innere Beteiligung inszeniert. Hier zeigt sich, dass der amerikanische Humor sich bereits deutlich vom britischen getrennt hatte. Wo der britische einen distanzierenden Filter einschaltet, liebt der amerikanische es direkter und herzhafter. Mark Twain hat Dickens nicht persönlich kennengelernt, äußerte sich später aber durchaus lobend über ihn und ließ sich unter anderem von dessen Manager Dolby seine eigenen Lesetouren organisieren. Dolby seinerseits, der nach einem verschwenderischen Leben 1900 völlig verarmt starb, bezeichnete die Organisation von Dickens’ Lesetouren als «das hellste Kapitel» seines Lebens.
Tod in den Sielen
Mai 1868 bis Juni 1870
Als sich Dickens auf dem Schiff nach England befand, hatte er neun arbeitsfreie Tage vor sich, um sich von den Strapazen der Lesetournee zu erholen. Seinem Körper tat die Ruhe gut, und die Erkältung schwand noch während der Überfahrt. Doch für seinen Geist gab es keine Ruhepause; denn vor ihm lag bereits die nächste Lesetour, die er mit Chappell & Co. vereinbart hatte. Sie war zwar als Abschiedstour geplant, sollte jedoch aus hundert Lesungen innerhalb von sechs Monaten bestehen, was schon von der physischen Belastung her eine Tortur bedeutete. Doch das Honorar von 8000 Pfund war zu verlockend, um sich gesundheitliche Schonung aufzuerlegen. Noch auf dem Schiff überlegte er, wie er sein Leseprogramm um einen weiteren Höhepunkt bereichern konnte, und fasste dafür die Mordszene aus
Oliver Twist
ins Auge, deren Rezitation für ihn später zu einem Selbstmordprogramm werden sollte; denn dabei verausgabte er sich physisch und psychisch bis an den Rand des Zusammenbruchs.
Die Vorbereitung der Abschiedstournee war nicht das einzige, was ihm auf der Seele lastete; auch die nächste Weihnachtsnummer stand ins Haus. Zwar war dafür nach der Landung am 1. Mai noch ein halbes Jahr Zeit, doch er spürte, dass der Quell seiner Fantasie nicht mehr so recht sprudeln wollte. Als er bis zum Juli noch immer keine zündende Idee hatte, bot er in Gad’s Hill jedem aus seinem Familien- und Freundeskreis 100 Pfund für eine verwertbare Fabel.
Zur Arbeitsbelastung kam noch eine Reihe seelischer Belastungen hinzu. Sein langjähriger treuer Freund und Illustrator George Cattermole starb und ließ eine schlechtversorgte Witwe mit Kindern zurück. Dickens empfand tiefe Trauer um den Freund und machte sich sogleich daran, eine Wohltätigkeitsaktion für die Hinterbliebenen zu organisieren.Trennungsschmerz bereitete ihm auch die Abreise seines jüngsten Sohnes Edward, der als Siebzehnjähriger Anfang Oktober nach Australien aufbrach, um sich dort seinem Bruder Alfred anzuschließen. Der sensible Junge hatte in der Schule versagt und sich zu einem Sorgenkind entwickelt, zu dem der Vater aber ein besonderes emotionales Verhältnis hatte. Kein anderes Kind hat er
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