Charles Dickens
lassen musste, nachdem er ein kleines Mädchen angefallen hatte. Ein weiteres familiäres Unglück war das Nervenfieber seiner Tochter Katey, um deren Ehe mit dem kränklichen Bruder von Wilkie Collins es nicht zum besten stand, was vermutlich die Ursache der nervösen Zustände war.
Das nun folgende Jahr 1867 ist das bestdokumentierte in Dickens’ Leben; denn es ist das einzige, für das ein vollständiges Tagebuch aus seiner Feder erhalten blieb. Während er alle früheren Tagebücher mit Ausnahme der wenig ergiebigen von 1838 bis 1841 später vernichtete, hatte er das für das Jahr 1867 auf seiner Amerika-Reise in New York verloren. Dort wurde es gefunden und landete in der New York Public Library. Besagtes Jahr begann mit einer kräftezehrenden Lesetour, die vom 15. Januar bis Mitte Mai dauerte und Dickens in fast alle größeren Städte Englands und Schottlands führte. Vom 15. bis 22. März war er sogar in Irland, obwohl man ihn davor gewarnt hatte, da just in diesem Jahr die irische Widerstandsbewegung der Fenian Society einen Aufstand gegen die englische Herrschaft begonnen hatte, der aber rasch unterdrückt wurde.
Als Dickens am 25. April eine Lesung in Preston hielt und sich danach zur nächsten nach Blackburn aufmachte, beschloss er, die kurze Entfernung von zwölf Meilen in Begleitung seines Managers Dolby zu Fuß zurückzulegen. Dabei kam er an Hoghton Tower vorbei, dem zur Ruine verfallenen Stammsitz der Hoghton-Familie, auf dessen Grund und Boden jüngere Gebäude standen, die an lokale Bauern verpachtet waren. Dickens durchstreifte die Ruine und fand hier Bildmotive, die unmittelbar Eingang in eine Erzählung fanden, die er kurz nach seiner Rückkehr in wenigen Tagen niederschrieb.
Die Erzählung trägt den Titel
George Silverman’s Explanation (George Silvermans Erklärung)
und nimmt eine Sonderstellung in Dickens’ Werk ein. Man merkt ihr an, dass er sich bereits mit dem Gedanken an einen neuen Roman trug, dann aber doch nicht die Energie dafür aufbrachte, so dass eine Geschichte entstand, die sich wie das Skelett eines Romans liest. Wie in
Große Erwartungen
schreibt ein Ich-Erzähler die Geschichteseines Lebens auf. Die szenische Eröffnung ähnelt den Ouvertüren der großen Romane, während danach gewissermaßen das Fleisch vom Skelett abfällt und nur noch die Handlung zu Ende erzählt wird.
Die Geschichte beginnt mit Silvermans Bericht, wie er bei völlig verarmten Eltern ohne jegliche Liebe und Fürsorge in einem erbärmlichen Kellerloch in Preston aufwuchs. Als beide Elternteile an einem Fieber starben, wurde er von einem selbstgerechten Sektenprediger zu einem Bauern neben der Ruine von Hoghton Tower gebracht, wo er ängstlich und kontaktscheu aufwuchs. Aus Andeutungen geht hervor, dass Silverman von dem Sektenführer durch Unterschlagung eines Testaments um sein großväterliches Erbe betrogen wurde. Doch er selber ging dem nicht nach, da ihm alle eingeredet hatten, dass er ein «weltlicher» Sünder sei. Schon seine Mutter hatte ihn immer wieder als «weltlichen kleinen Teufel» bezeichnet und auch der Sektenprediger hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, dass er jede eigennützige Regung in sich unterdrücken müsse.
Das führte schließlich dazu, dass Silverman, nachdem er die Schule besucht und mit Hilfe eines Stipendiums in Cambridge Theologie studiert hatte, wegen seiner von allen gerühmten Selbstlosigkeit eine kärglich besoldete Pfarrstelle annahm, über deren Vergabe die arrogante, kaltherzige Aristokratin Lady Fareway verfügen konnte. In Wirklichkeit wollte die Lady aber nur einen billigen Gehilfen haben, der ihr bei der Verwaltung ihrer Güter zur Hand gehen und ihrer Tochter Adeline geistige Bildung vermitteln sollte. Silverman verliebte sich in das Mädchen, doch selbst als Adeline seine Liebe erwiderte, unterdrückte er seine Gefühle und förderte statt dessen ihre Verbindung mit einem anderen Privatschüler, einem sympathischen, aber nicht sehr wohlhabenden jungen Mann aus guter Familie. Als die beiden jungen Leute sich von ihrem Privatlehrer heimlich trauen ließen, übernahm der es, Adelines Mutter davon in Kenntnis zu setzen. Diese tobte über die nicht standesgemäße Eheschließung und warf Silverman vor, er habe sich von der Tochter, die über eigenes Vermögen verfügte, bestechen lassen. Silverman, der aus übertriebener Selbstlosigkeit auf sein eigenes Liebesglück verzichtete, musste wegen angeblichen Eigennutzes seine Pfarrstelle aufgeben und mit
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