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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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Erfahrung in seine Seele einbrannte, geht daraus hervor, dass er sie in einem autobiographischen Fragment niederschrieb, das er nur seinem Freund John Forster unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu lesen gab. Selbst seine Kinder erfuhren davon erst, als Forster das Fragment zwei Jahre nach dem Tod des Dichters in seiner Dickens-Biographie publizierte. Doch Dickens’ Lesern waren große Teile davon längst bekannt, nur wussten sie nicht, dass der Autor das, was er in
David Copperfield
in oft gleichem Wortlaut als Kindheitstrauma seines Helden beschreibt, selber erlebt hatte. Das Fragment enthält nicht nur den biographischen Schlüssel zu manchen von Dickens’ späteren Verhaltensweisen, sondern zugleich ein szenisches Inventar, das in immer neuen Verwandlungen als symbolische Kulisse in seinen Romanen wiederkehrt. Deshalb soll es hier in seinen wesentlichen Teilen wiedergegeben werden:
    Es ist mir unbegreiflich, wie man mich in so zartem Alter so leichthin fallen lassen konnte. Es ist mir unbegreiflich, dass, nachdem ich seit unserer Ankunft in London bereits zu einem kleinen Packesel geworden war, niemand genug Mitgefühl mit mir aufbrachte – mit einem Kinde von einzigartigen Gaben, aufgeweckt, lebhaft, zartund verletzlich an Körper und Geist –, um auch nur vorzuschlagen, mich auf eine gewöhnliche Schule zu schicken. Die Mittel dafür hätten sich finden lassen. Unsere Freunde, so scheint es mir rückblickend, hatten resigniert, und mein Vater und meine Mutter waren damit zufrieden. Sie hätten kaum mehr Zufriedenheit zeigen können, wenn ich nach erfolgreichem Abschluss des Gymnasiums im Alter von 20 Jahren an die Universität von Cambridge gegangen wäre.
    Die Schuhwichsfabrik war das letzte Haus in der Straße zu den Old Hungerford Stairs. Es war ein verwinkeltes, halbverfallenes altes Haus, das über den Fluss hinausragte und in dem es von Ratten wimmelte. Die hölzernen Wandverkleidungen, die verrotteten Fußböden und Treppen, die alten grauen Ratten, die im Keller umherhuschten, ihr Quietschen und Scharren, wenn sie die Treppe heraufkamen, der Dreck und Verfall – all das steigt vor meinem inneren Auge auf, als wäre ich wieder dort. Die Buchhaltung befand sich im ersten Stock, mit dem Blick über den Fluss und über die mit Kohle beladenen Schleppkähne. Dort war eine Nische, in der ich sitzen und arbeiten sollte. Meine Aufgabe war, die vollen Schuhwichsgefäße zuerst mit einem Stück Ölpapier und danach mit blauem Papier zu umwickeln, dann sollte ich das Papier mit einem Faden zusammenbinden und die überstehenden Enden rundherum so abschneiden, dass die Dosen zuletzt wie die hübschen Salbengefäße bei einem Apotheker aussahen. Wenn eine bestimmte Anzahl von Dosen in diesen Zustand von Perfektion gebracht war, sollte ich sie mit einem gedruckten Etikett bekleben. Dann kamen die nächsten an die Reihe. Zwei oder drei Jungen waren im Erdgeschoss mit dem Gleichen beschäftigt, bei gleichem Lohn. Einer von ihnen, in einer zerlumpten Schürze und mit einer Mütze aus Papier, kam zu mir herauf, um mir den Trick zu zeigen, wie man den Faden zu einem Knoten bindet. Er hieß Bob Fagin, und ich nahm mir die Freiheit, später in
Oliver Twist
einer Figur diesen Namen zu geben.
    Unser Verwandter hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, mich in der Mittagspause zu unterrichten, jeden Tag von zwölf bis ein Uhr, wenn ich mich recht erinnere. Doch das Arrangement vertrug sich mit dem Betrieb einer Buchhaltung so schlecht, dass es bald aufhörte, ohne dass er oder ich daran schuld gehabt hätten. Aus demgleichen Grund verschwanden bald auch mein kleiner Arbeitstisch, meine zu bearbeitenden Dosen, meine Papiere, Bindfäden, Scheren, mein Leimtopf und die Etiketten nach und nach und wanderten nach unten. Es dauerte nicht lange, bis ich neben Bob Fagin und einem anderen Jungen arbeitete. Dessen Name war Paul Green, doch man hielt Poll für seinen Taufnamen (ein Glaube, den ich viel später auf Mr. Sweedlepipe in
Martin Chuzzlewit
übertrug). Bob Fagin war ein Waisenkind und lebte bei seinem Schwager, der als «Wassermann» auf der Themse seinen Lebensunterhalt suchte. Poll Greens Vater war ein «Feuermann», der als Beleuchter am Drury Lane-Theater beschäftigt war, wo eine andere Verwandte von Poll, ich glaube seine kleine Schwester, als Kobold in Pantomimen auftrat.
    Die Schuhwichsfabrik. Zeitgenössischer Stich.
    Keine Worte können die heimliche Agonie meiner Seele ausdrücken, die das Versinken in

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