Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
Vom Netzwerk:
solche Gesellschaft in mir bewirkte, wenn ich diese Genossen mit den Gefährten meiner glücklicheren Kindheit verglich und wenn ich daran dachte, dass alle Hoffnungen, einmal ein gelehrter und angesehener Mann zu werden, in meiner Brust erstickt waren.
    Unbeschreiblich ist die tiefsitzende Erinnerung daran, wie vollkommen vernachlässigt und ohne Hoffnung ich mich fühlte, mit welchem Elend in meinem jungen Herzen ich daran dachte, dass von Tag zu Tag alles, was ich gelernt, gedacht, woran ich mich erfreut und was meine Fantasie und meinen Ehrgeiz geweckt hatte, von mir wich, um nie wieder zurückzukehren. Mein ganzes Wesen war vom Schmerz der Erniedrigung so durchdrungen, dass ich selbst jetzt, wo ich berühmt, geschätzt und glücklich bin, in meinen Träumen oft vergesse, dass ich eine liebe Frau und Kinder habe, ja, dass ich ein erwachsener Mann bin, und ich wandere in trostloser Einsamkeit zurück in jene Zeit meines Lebens.
    Auf den weiteren Seiten des Fragments beschreibt Dickens so detailreich, wie man es aus seinen Romanen kennt, wie kärglich er sich damals ernährte, wie er manchmal das Geld für sein Mittagessen für eine kleine Leckerei ausgab, deren Verlockung er nicht widerstehen konnte, und wie er an den Sonntagen zusammen mit seiner Schwester Fanny den Vater im Gefängnis besuchte. Vor allem aber, wie er mit allen Mitteln versuchte, sich einen höheren Status unter den Beschäftigten zu bewahren. Das gelang ihm – wie in seinem späteren Leben – zum einen durch äußerste Selbstdisiziplin und zum anderen durch so schnelles und geschicktes Arbeiten, dass Leute, die am Fenster der Fabrik vorbei kamen, stehenblieben und bewundernd den fleißigen Händen des Jungen zusahen. Inzwischen war die Fabrik in ein Haus in der Chandos Street, Covent Garden, verlegt worden, wo ein reges Treiben herrschte. Sein ganzes Selbstwertgefühl bezog Charles daraus, dass alle in der Fabrik von ihm als «dem jungen Gentleman» sprachen. Welche Bedeutung dieser Status für ihn hatte, zeigt sich nicht nur in seinen Romanen, sondern mehr noch in seinem späteren Leben, das immer stärker auf den Lebensstil eines Angehörigen der Gentry gerichtet war. Bezeichend dafür ist, dass er, obwohl er als Autor, Schauspieler und Rezitator einen unglaublichen körperlichen Einsatz zeigte, später offenbar nie eine Handarbeit, nicht einmal im eigenen Garten ausübte.
    Die Aussicht auf Erlösung aus dem Elend kam schneller, als der verzweifelte Knabe zu hoffen gewagt hatte. John Dickens hatte vom Gefängnis aus erreicht, dass er aus gesundheitlichen Gründen in denRuhestand versetzt wurde, was ihm eine bescheidene, aber dauerhafte Pension von 146 Pfund sicherte. Eine weitere Verbesserung seiner finanziellen Verhältnisse trat ein, als am 26. April 1824 seine Mutter starb und ihm eine Erbschaft von 450 Pfund hinterließ. Das reichte zwar nicht, um seine Schulden vollständig zu bezahlen – es blieb eine Restforderung von 700 Pfund –, doch inzwischen hatten seine Gläubiger in ein förmliches Insolvenzverfahren eingewilligt, wodurch seine Entlassung aus dem Gefängnis am 28. Mai 1824 möglich wurde. Die letzte Rate seiner Schuldentilgung konnte er erst zwei Jahre später im November 1826 zurückzahlen.
    Der Hoffnungsschimmer, den Charles am Horizont heraufziehen sah, erlosch für ihn aber gleich wieder, als sein Vater trotz der verbesserten finanziellen Situation keine Anstalten machte, ihn aus der Fabrik zu nehmen und wieder in die Schule zu schicken. Einen Monat nach der Entlassung des Vaters war der Sohn noch immer der Lohnsklave in der Schuhwichsfabrik und musste mit ansehen, wie seiner Schwester Fanny an der Königlichen Musikakademie eine silberne Medaille als zweiter Preis im Klavierspiel überreicht wurde. In dem Fragment berichtet er, wie der Vater sich darüber empörte, dass sein Sohn bei seiner erniedrigenden Arbeit den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt war, was er, der Vater, offenbar als Kränkung der Familienehre eines Gentleman empfand. Das führte zu einem Streit mit dem Manager Lamert, dem der Vater androhte, den Sohn aus der Fabrik zu nehmen. Der Streit wurde durch die Mutter geschlichtet, die aus Sorge um die Familienfinanzen auf diese Einkommensquelle nicht verzichten wollte. Als der ohnehin tief verwundete Sohn erfuhr, dass seine Mutter auf der Fortdauer seiner Sklaverei bestand, fühlte er sich nun gänzlich jeder Hoffnung beraubt. Wie lange er das von ihm so empfundene Martyrium noch aushalten musste,

Weitere Kostenlose Bücher