Charles Dickens
ist ungeklärt. Lange Zeit glaubte man, dass er insgesamt nur etwa neun Monate in der Fabrik gearbeitet hat. Inzwischen gehen die bestinformierten Biographen, allen voran Michael Slater, von einer Zeitspanne zwischen 13 und 14 Monaten aus, was für einen Zwölfjährigen eine Ewigkeit ist.
Ende 1824 zog John Dickens mit seiner Familie in die Johnson Street, die in Somers Town, einem Armeleuteviertel, lag. Als dann im folgenden Jahr die Auszahlung seiner Pension begann, stabilisierten sich seine finanziellen Verhältnisse, und jetzt endlich erlöste er denSohn aus seinem Elend und schickte ihn wieder auf eine Schule. Die Wellington House Academy in der Hampstead Road war eine eher dürftige Lehranstalt, über deren Leiter Dickens sich in späteren Jahren höchst abfällig äußerte. Die Porträts unfähiger und grausamer Lehrer, die er in einigen seiner Romane gibt, dürften aus der Erinnerung an seine zwei Jahre an dieser Akademie gespeist sein. Für einen Wissenschaftler oder Philosophen wäre der Besuch einer solchen Schule verlorene Zeit gewesen, doch für einen so scharfen Beobachter von Wirklichkeit wie ihn, der die groteske Buntheit der Welt mit kleinsten Details in sich aufnahm, war es ein Gewinn an Welterfahrung und damit wertvoller als die unzulängliche Schulbildung, die er dort genoss.
Währenddessen verbesserten sich die finanziellen Verhältnisse der Familie nur langsam. Wiederholt musste der Vater um Stundung der Gebühren für Fannys Musikunterricht bitten. Um neue Einnahmequellen zu erschließen, verdingte er sich als Autor von Artikeln über Schiffsversicherungen und als Parlamentsreporter. Doch als die Zeitschrift
The British Press
, die ihm gerade erst den Einstieg in den Journalismus eröffnet hatte, im Oktober 1826 eingestellt wurde, war diese Quelle bereits wieder versiegt. Untätigkeit war ihm jedenfalls nicht vorzuwerfen.
Im Mai 1827 trat auch Charles ins Arbeitsleben ein. Bei einer entfernten Verwandten hatte er den jungen Anwalt Edward Blackmore kennengelernt, der den Fünfzehnjährigen, den er als «äußerst gut aussehend und gewitzt» beschrieb, als Anwaltsgehilfen einstellte. Blackmore berichtete später, wie beeindruckt er von der Ortskenntnis seines jungen Angestellten war. Schon in diesem Alter hatte Dickens die Stadt London, die er bis zu seinem Lebensende immer wieder in langen Fußmärschen durchwanderte und bis in die letzten Winkel erforschte, so detailliert im Kopf wie vermutlich sonst nur ein Droschkenkutscher.
1827 musste John Dickens mit seiner Familie erneut umziehen, da er für die Wohnung in der Johnson Street die Miete schuldig blieb. Jetzt reichte das Geld auch nicht mehr für Fannys Klavierunterricht. Im neuen Domizil, das wieder nur eine Durchgangsstation blieb, wurde das jüngste Kind der Familie, Augustus Newnham, geboren. Der Kleine erhielt schon bald den Scherznamen Moses, nach einer Figur aus Oliver Goldsmiths Roman
Der Pfarrer von Wakefield
. Da das Kind, als es zu reden anfing, diesen Namen als ‹Boz› aussprach, wurde so das Pseudonym geboren, unter dem sein ältester Bruder seineersten literarischen Werke veröffentlichte, die den Namen berühmt machten.
In den zwei Jahren, die Dickens in der Anwaltskanzlei arbeitete, erwarb er sich Kenntnisse des labyrinthischen englischen Rechtswesens, die er später wiederholt in seine Romane einfließen ließ. Der knappe Wochenlohn und die ebenso knapp bemessene Zeit, die ihm sein Broterwerb ließ, hinderten ihn nicht, schon jetzt regelmäßig die Theater zu besuchen. Im Winter 1828 wechselte er zur Kanzlei von Charles Molloy in New Square, Lincoln’s Inn, wo er mit dem Angestellten Thomas Mitton Freundschaft schloss, der ihm danach jahrzehntelang als Rechtsbeistand behilflich war. Er selber hatte aber schon nach wenigen Monaten von der juristischen Praxis genug und wechselte auf die andere Seite. Der Anstoß dazu kam wohl von John Henry Barrow, einem Bruder seiner Mutter, der sich als Gerichtsreporter einen Namen gemacht hatte. 1828 gründete dieser eine eigene Zeitung für Parlamentsberichte,
The Mirror of Parliament
, für die Dickens’ Vater als Reporter Debatten mitstenografierte. Diesem Beispiel folgend lernte auch Charles das Stenografieren, was er bald mit großer Geschwindigkeit beherrschte. Irgendwann im Jahr 1829 tat er sich mit Thomas Charlton, einem anderen Gerichtsreporter, zusammen und betrieb mit ihm gemeinsam ein Büro, das Reportagen der Prozesse am Gerichtshof Doctor’s Commons an die Presse
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