Charles Dickens
In die älteste, die 20-jährige Kate, wie sie in der Familie genannt wurde, verliebte er sich auf der Stelle. Doch diesmal war er entschlossen, nie wieder wie ein Fisch an der Angel zu zappeln. Deshalb nahm er von Anfang an die Rolle des dominanten Mannes ein, der die umworbene Braut mit erzieherischen Ratschlägen, Ermahnungen und Zurechtweisungen daran erinnerte, dass es ihre Aufgabe sei, sich dem Ehemann unterzuordnen, ihn zu umsorgen und ihm ein trautes Heim zu bereiten.
Skizzen von Boz
Heutige Leser, selbst die treuesten unter den Dickens-Verehrern, neigen dazu, in diesem ersten erzählerischen Werk des Dichters nur eine Vorübung für die nachfolgenden Romane zu sehen. Um zu verstehen, weshalb die Skizzen so rasch die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zogen und kurz darauf in der Buchausgabe zu einem sensationellen Erfolg wurden, muss man sich die literarische Situation im England der 1830er Jahre vergegenwärtigen.
Der letzte Autor vor Dickens, der dort als Erzähler mit gleichem Aplomb die Bühne betreten hatte, war Sir Walter Scott, dessen historische Romane man in ganz Europa und Amerika als so neuartig empfand, dass sie überall nachgeahmt wurden. Doch Scott hatte sich schon vorher einen Namen als Dichter von sehr erfolgreichen Verserzählungen gemacht, so dass seine Romane, auch wenn er sie anonym herausbrachte, bei Kennern keine so große Überraschung auslösten wie das Werk des bis dahin gänzlich unbekannten jungen Dickens. Scotts Romane hatten bis Ende der 1820er Jahre den Markt beherrscht. Doch nach seinem Tod 1832 zeigte der historische Roman die Ermüdungserscheinungen, die bei jeder Neuerung zu beobachten sind.
Als Alternative bot sich der Romantyp an, den Jane Austen zur Meisterschaft entwickelte. Sie hatte die Sittenkomödie, die sogenannte
comedy of manners
, ins Epische übertragen und damit eine Möglichkeit gefunden, zwischenmenschliche Beziehungen mit subtiler Psychologie darzustellen. Doch die von Scott hoch geschätzte Autorin war damals nur ein Geheimtipp. Als eine der Großen der englischen Literatur wurde sie erst im zwanzigsten Jahrhundert erkannt.
Die immer breiter werdende untere Mittel- und obere Arbeiterschicht, die nach Teilhabe an der Kultur verlangte, konnte weder bei Scott noch bei Jane Austen ihre eigene Welt wiederfinden. Scotts Romane spielten in der Vergangenheit und Austens in der Welt der
Landed Gentry.
Zwar hatte der Landadel, zu dem soziologisch auch die titellose Schicht der bloßen Gentlemen gehörte, familiäre Beziehungen zur oberen Mittelschicht der Städte, doch den Schichten darunter warendie Werte der Gentry weitgehend fremd. Diese Menschen, die bis dahin keinen literarischen Spiegel hatten, in dem sie ihre eigene Lebenswelt wiedererkannten, fanden in den
Skizzen von Boz
Geschichten, die weder im Mittelalter noch im schottischen Hochland spielen und auch nicht auf Landsitzen, deren Bewohner ohne eigene Arbeit von den Pachterträgen ihres Grundbesitzes leben. Es treten darin keine gebildeten Gentlemen auf, sondern mittellose Stadtbürger, die gern den Gentleman spielen; sie verkehren in Kneipen, kleinen Läden, Polizeibüros und billigen Pensionen. Sie werden von Gläubigern bedrängt, sind als Junggesellen auf der Suche nach einer Frau oder machen sich als ältere Jungfer noch Hoffnung auf einen Ehemann. Im bunten Gewimmel dieses Personals gibt es liebenswürdige, aber lebensuntüchtige Schwächlinge und tatkräftige, aber taktlose Männer, die solch einem Schwächling zu einer Frau verhelfen wollen; es gibt Mütter, die für ihre Töchter eine gute Partie ausspähen, und berechnende Erbschleicher, die einen reichen Verwandten einzuwickeln versuchen. Kurzum, es ist das Kleine-Leute-Milieu in seiner ganzen Vielfalt, dazu noch eingebettet in eine Stadtlandschaft, die man an Hand der zahllosen Straßennamen auf einem Stadtplan Londons nachzeichnen konnte. Aus englischer Sicht erinnert das Milieu an die Stiche William Hogarths aus dem 18. Jahrhundert, während deutsche Leser eher an Heinrich Zille denken werden. Doch anders als der von ihm bewunderte Hogarth zeigt Dickens die Menschen in ihrem Londoner Alltagsleben nicht im Licht eines gnadenlosen Moralismus. Eher schon gleicht er Zille, der über sein «Milljöh» ein warmes Mitgefühl ausgießt. Empathie für den leidenden Menschen ist bei Dickens in reichem Maße zu spüren, daneben aber auch Spott und Schadenfreude gegenüber bloßgestellten Angebern, Heuchlern und Geizhälsen. Doch selbst da, wo
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