Charles Dickens
seiner jüngeren Söhne zum Ausdruck bringt, die er Adam Smith und Malthus taufte.
Dickens geht es nicht um Kritik an der Ausbeutung der Arbeiter und an den unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Gegenstand seiner Anklage ist vielmehr der drohende Tod dessen, was seiner Meinung nach das Leben menschlich und damit lebenswert macht, nämlich der kreativen Fantasie, die im Roman allegorisch durch einen Zirkus repräsentiert wird. Für ihn ist der Arbeitskampf der Gewerkschaften Ausdruck des gleichen fantasiefeindlichen Denkens wie das Gewinnstreben der Kapitalisten. Deshalb zeigt er in Stephen Blackpool einen Arbeiter, der sich der Teilnahme am Streik verweigert. Da dieser damit aber eher als Vertreter des konservativen Establishments empfunden worden wäre, lässt Dickens ihn noch an eine trunksüchtige Ehefrau gekettet sein, von der er sich wegen der verkrusteten Rechtsordnung nicht scheiden lassen kann.
Stephen Blackpool empfindet sich als hilflos Treibender in einem System, das er wiederholt als
muddle
(Wirrwarr) bezeichnet. Dieses
muddle
ist für ihn das, was für Richard Carstone in
Bleak House
der Jarndyce-Prozess war. Auf der Suche nach Halt stürzt er zuletzt in einen stillgelegten Bergwerksschacht, von dessen Grund aus er den Polarstern sieht. Da klärt sich in seinem Kopf der ‹Wirrwar›, er findet zu sich selber und stirbt in Frieden. Das ist eines der Regenerationserlebnisse, die in Dickens’ Romanen gewöhnlich im Wasser, in einem Sumpf oder im Nebel stattfinden. Dass es dabei nicht um Kritik an den Arbeitsbedingungen geht, ist an einem bezeichnenden Detail abzulesen. Im Originalmanuskript hieß es, dass Stephens kleine Schwester starb, als ihr von einer Maschine ein Arm abgerissen wurde. Dieses Detail, das noch in den Korrekturfahnen stand, hat Dickens aus der Endfassung getilgt; denn nach solch einer Erfahrung hätte Stephen zum Rebellen werden müssen. So aber ist er ein leidender Märtyrer, der an den Mauern eines verkrusteten Gesellschaftssystems zerbricht.
Der allegorischen Eindeutigkeit zum Trotz scheint in dem Roman dennoch das symbolische Grundmuster durch. Coketown trägt alle Züge des Gefängniskomplexes, während die umgebende Natur mit den lauernden Öffnungen der stillgelegten Schächte dem Wasserbereich entspricht. Selbst die Erbschaftsthematik klingt an; denn nicht nur Stephen wird durch das Auftauchen seiner verschollen geglaubten Frau von der Vergangenheit eingeholt, auch sein Gegenspieler Bounderbywird mit etwas Verdrängtem konfrontiert, als in Coketown eine mysteriöse alte Frau erscheint: Es ist seine Mutter, der er seinen Aufstieg zu verdanken hat und die er, um seinen Mythos als Selfmademan aufrechtzuerhalten, gern verleugnet hätte.
Außer Stephen Blackpool gibt es in dem Roman noch eine zweite Hauptfigur, die das Problem der Entfremdung leidend verkörpert. Es ist Gradgrinds Tochter Louisa, in der die Erziehung nach den Grundsätzen ihres Vaters Fantasie, Gefühl und Liebesfähigkeit abgetötet hat. Sie ist im Gefängnis von Coketown innerlich erstarrt und willigt trotzig in die lieblose Ehe mit dem 30 Jahre älteren Bounderby ein. Erst als James Harthouse, ein gut aussehender jüngerer Mann, um sie wirbt und mit ihr durchbrennen will, wird sie sich ihrer Situation voll bewusst. Sie verlässt ihren Mann, doch ohne Harthouse zu folgen, wobei ihre Flucht aus dem Gefängnis symbolisch von unwetterartigem Regen begleitet wird. In einem Ausblick in die Zukunft erfährt der Leser, dass ihr zwar das Glück einer erfüllten Ehe versagt bleibt, doch sie schließt Freundschaft mit Sissy Jupes, der Tochter eines Zirkusclowns, und sie kümmert sich liebevoll um deren Kinder. Auch Gradgrind selber sprengt sein Gefängnis. Als er erkennt, dass seine Erziehungsprinzipien bei Louisa und seinem kriminellen Sohn zum Fiasko geführt haben, will er sich fortan nicht mehr von «Fakten», sondern von «Glaube, Hoffnung und Liebe» leiten lassen.
Es kann kaum verwundern, dass
Hard Times
von allen Dickens-Romanen der umstrittenste ist. Wer Dickens’ sozialkritisches Pathos teilte, musste darin ein Buch sehen, das ernster zu nehmen war als die humorvolleren Werke. So sah Thomas Carlyle, dem der Roman gewidmet ist, darin naturgemäß eine Bestätigung seiner eigenen radikalen Gesellschaftskritik. Demgegenüber empfand der liberale Historiker und Politiker Thomas Babington Macaulay das Buch als «dumpfen Sozialismus» (
sullen socialism
). F. R. Leavis, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts als
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