Charlie + Leo
S-Bahn.«
Ich öffne die Tür und schiebe ihn nach draußen.
»Wir sehen uns morgen nach der Schule«, sage ich. »Viel Spaß heute Abend!«
»Ja, danke, tschüss«, sagt er noch, während er die Treppen heruntergeht.
Ich schließe die Tür und gehe zurück in mein Zimmer. Ein kurzer Klick auf »Senden/Empfangen«, ungefähr der siebenundachtzigste heute, ich habe mich zurückgehalten. Immer noch keine Antwort. Verdammt, was macht sie denn bloß den ganzen Tag? Ist sie denn überhaupt nicht neugierig auf die nächsten Bilder? Will sie denn gar nicht wissen, wie die Geschichte weitergeht? Kapier ich nicht.
Ich mache mich an das nächste Bild, das ich schon ziemlich genau im Kopf habe. Gerade als ich die ersten Linien ziehe, lässt mich die Türklingel plötzlich aufschrecken und einen sehr krummen Strich ziehen. Mein Vater, jede Wette. S-Bahn verpasst oder doch irgendwas vergessen.
Genervt stehe ich auf und gehe an die Tür. Als ich sie öffne, sehe ich Ingo draußen stehen.
»Alder!«, sagt er und grinst mich an. »Alles locker, alter Rocker?«
Er gibt mir einen Klaps auf die Schulter und schiebt sich an mir vorbei in die Wohnung. Ich folge ihm in mein Zimmer.
»Und?«, fragt er. »Wie läuft’s denn so mit deiner Emo-Bitch?«
»Sie ist keine Bitch«, fühle ich mich verpflichtet klarzustellen. »Wie kommst du darauf, dass sie eine Bitch sein könnte?«
»Na, weil alle Frauen Bitches sind«, sagt er. »Alle Gangsta nennen ihre Frauen Bitches. Das weiß doch jeder.«
»Aha«, erwidere ich. »Und weißt du auch, was Bitch eigentlich heißt?«
»Alder, klar weiß ich das!«, antwortet Ingo im Brustton der Überzeugung. »Eine Bitch ist ein e … Na, das ist eine Frau, di e … die man ganz krass mag. Eine feste Freundin, zum Beispiel. Das ist deine Bitch.«
»Bitch heißt wörtlich übersetzt Schlampe«, sage ich trocken. »Eine Bitch ist eine Frau, die mit jedem in die Kiste hüpft.«
»Was, echt?!«, quiekt Ingo entsetzt auf. »Du verarschst mich doch, oder? Verarsch mich nicht! Das ist nicht lustig, Alder!«
»Nein, ich verarsch dich nicht«, sage ich ernst. »Das ist echt so. Bitch heißt Schlampe. Warte, ich beweis es dir.«
Ich gehe an meinen Computer und klicke mich ins Internet.
»Wie heißt dieses Online-Englisch-Lexikon noch mal?«, frage ich.
»Das müsstest du doch eigentlich am besten wissen«, sagt Ingo und grinst breit.
»Wieso?«, wundere ich mich.
»Na ja, hast du nicht gesagt, deine Angebetete heiß t …«
»LEO«, vollende ich seinen Satz. »Natürlich. Da hätte ich eigentlich gleich draufkommen müssen.«
Ich gehe auf LEO, gebe »Bitch« ein und erhalte das erwartete Ergebnis.
»Hier, guck«, fordere ich Ingo auf. »Da hast du’s schwarz auf weiß. Oder blau auf gelb, besser gesagt.«
Ingo beugt sich über den Schreibtisch in Richtung Monitor. Zwei Sekunden später schlägt er entsetzt die Arme über dem Kopf zusammen.
»Ach du Scheiße!«, stöhnt er. »Warum sagt mir denn so was keiner?! Gerade heute Morgen habe ich meine Mutter noch Bitch genannt! Und das nicht zum ersten Mal!«
Ich kann nicht anders, ich muss kichern.
»Das ist nicht lustig, Alder!«, stöhnt Ingo. »Ich habe meine Mutter Schlampe genannt! Mehrmals! ›Gibst du mir mal bitte die Butter, Bitch? Kann ich noch ein Glas Grapefruitsaft haben, Bitch? Gute Nacht, Bitch. Hab dich lieb, Bitch.‹ Ständig hab ich das gesagt!«
»Aber sie hat nie darauf reagiert, oder wie?«, will ich immer noch kichernd wissen. »Und dein Vater auch nicht?«
»Nein«, sagt Ingo. »Die beiden können zum Glück null Englisch.«
»Na, das scheint ja bei euch in der Familie zu liegen«, stelle ich fest.
Wir lachen beide. Das ist auch so eine Eigenschaft an Ingo, für die ich ihn als Freund sehr schätze. Wenn er mal mies drauf ist oder ihn irgendetwas anpisst, dauert es nie lang, bis er wieder bessere Laune hat.
»Tut mir leid, Alder«, sagt er, als wir ausgelacht haben. »Ich wollte deine Emo-Leo natürlich nicht Schlampe nennen. Aber erzähl mal, was ist denn jetzt? Hat sie geantwortet? Seid ihr jetzt zusammen? Habt ihr schon geknutscht? Hast du ihre Möpse ang e …«
»Langsam, langsam!«, unterbreche ich ihn. »Eins nach dem anderen. Geantwortet hat sie mir immerhin schon mal, auch wenn’s ewig gedauert hat. Hier, guck.«
Ich öffne Leos Mail, Ingo liest sie gespannt.
»Okay, nicht schlecht«, sagt er. »Was hast du geantwortet?«
Ich zeige ihm die Antwort.
»Ja, das könnte funktionieren«, sagt er. »Darf ich
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