Charlotte
lag noch da, also war sie nicht geflüchtet. Sie war mit Leonoor irgendwohin gefahren.
Ich konnte schwerlich feststellen, was sie an Gepäck mitgenommen hatten, da ich natürlich ihre Verhältnisse nicht kannte. Viele Kleider fand ich nicht in Charlottes Schlafraumhälfte. In der von Leonoor gab es, neben einem Doppelbett und einem Regal mit Büchern und einem Wecker, einen breiteren Kleiderschrank, von dem eine Hälfte beträchtlich leerer war als die andere, die wahrscheinlich Kleidung von Elisabeth enthielt.
Kein Adressbuch, keine Pässe. Das Fehlen persönlicher Papiere fühlte sich nach Absicht an, als hätte Leonoor gewusst, dass man das Boot durchsuchen würde, und den Laden ausgeräumt. Im Moment sah es so aus, als kämen mit der Post nur Rechnungen für Wasser, Strom und Telefon sowie die Zeitschrift Opzij.
Womöglich besaß Charlotte gar keinen Pass. Wenn einer für sie beantragt worden wäre, hätte sie persönliche Dokumente zu Gesicht bekommen, darunter eine Kopie der Geburtsurkunde mit dem Namen ihres Vaters darauf, was sich mit dem Märchen der Mütter vom anonymen Spender aus Vrij Nederland nicht vertragen hätte.
Ich fand das Fotoalbum, das Charlotte erwähnt hatte, auf einem Regal unter dem Fenster im Wohnzimmer. Es waren ausschließlich Fotos der letzten zwanzig Jahre darin, einige schwarz-weiß, nichts aus der Zeit davor. Ich blätterte es rasch durch. Schnappschüsse in einem Wohnzimmer und auf einem Balkon, wahrscheinlich in ihrer Wohnung in Utrecht, das Baby in einer Wiege, die Frauen mit Baby beim Picknick im Wald, auf Klappstühlen vor einem Wohnwagen auf einem Campingplatz, Leonoor und Elisabeth am Meer mit Charlotte als Kleinkind, Charlotte als Schulkind, auf dem Hausboot und winkend im Ruderboot. Es schien, als hätten die beiden Frauen bei ihrem Umzug hierher beschlossen, alles Alte wegzuwerfen und ganz neu anzufangen, wiedergeboren wie Waisenkinder, die niemals Eltern, Familie, Schulausflüge, Partys oder Freunde gekannt hatten. Ich zog ein Foto der beiden Frauen aus den Fotoecken und steckte es in mein Portmonee.
Ich empfand das Hausboot allmählich als deprimierend und ging zurück in die Diele. Ich hatte die Tür schon geöffnet, als mein Blick auf das schwarze Barett fiel, das über einem braunen Regenmantel an der Garderobe hing. Es sah ganz so aus wie eines von denen, die Hermien Buizing beschrieben hatte, aus dem französischen Südwesten, wo der Dialekt eher spanisch als französisch klingt, oder aus alten Filmen. Man konnte sich Marlene Dietrich damit vorstellen oder Zarah Leander, Françoise Sagan. Leonoor Brasma.
Im Auto wählte ich die Nummer in Breda.
Eine Frau meldete sich. »Offermans.«
»Guten Tag, Mevrouw, mein Name ist Max Winter. Ich bin auf der Suche nach ihrer Nichte Charlotte. Sie sind doch ihre Tante Marlies?«
»Charlotte?« Sie klang ehrlich erstaunt. Charlotte war nicht bei ihr, aber damit hatte ich auch nicht ernsthaft gerechnet. Jedenfalls nicht in Begleitung von Leonoor.
»Sie ist nicht zu Hause und hat mir einmal Ihre Adresse genannt«, sagte ich.
»Ich habe sie nicht mehr gesehen seit … schon seit einer ganzen Weile nicht. Genauer gesagt, seit der Beerdigung meiner Schwester. Ist etwas passiert?«
»Nein, Mevrouw, es geht nur um eine einfache Arbeitnehmererklärung. Wissen Sie eventuell, wo ich sie erreichen könnte?«
»Ich habe … Nein, keine Ahnung.« Es klang ein wenig reumütig. »Ich befürchte, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.«
Rechtsanwalt G. H. van Zon hauste zusammen mit einer Sekretärin über einem Schuhgeschäft in der Arnheimer Innenstadt und seine Kanzlei hätte ebenfalls aus einem alten französischen Film stammen können. Eine Holztreppe ohne Läufer führte hinauf zu einer unterbezahlten Sekretärin zwischen braunen Schränken, auf ihrem Schreibtisch ein alter Macintosh sowie ein Telefon und Aktenmappen. Sie feilte sich jedoch nicht die Nägel wie im Film, sondern sah unter viel Stirnrunzeln die Mappen durch, hier und dort eine Anmerkung kritzelnd, während ich auf einem unbequemen Stuhl neben einem Tischchen voller Friseurzeitschriften wartete. Ihr Schreibtisch erinnerte an ein ausrangiertes Militärmöbel.
Ich hatte vom Auto aus angerufen und Meneer van Zon konnte sich tatsächlich kurz für mich Zeit nehmen. Wahrscheinlich hielt sich seine Kanzlei dank des Geldes aus dem Runing-Fall plus Prämien oder einer Provisionssache ein Jahr lang über Wasser, aber van Zon ließ mich zehn Minuten warten, als
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