Charlotte
ersten Schicht gearbeitet. Meistens rufen die Mitarbeiter wenigstens an, wenn sie krank sind oder so.«
»Haben Sie versucht, sie zu erreichen?«
»Ja, aber niemand ist ans Telefon gegangen. Sind Sie von der Polizei?«
»Nein, warum? Erwarten Sie jemanden?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich erwarte, dass die Mitarbeiter zur Arbeit erscheinen. Wenn sie ohne Bescheid zu geben wegbleiben, kann schon mal die Polizei auftauchen.«
Diesmal fand ich die ehemalige Kiesgrube ohne Probleme. Träge lagen die Hausboote auf dem Wasser. Kleine Kinder, die auf der Straße Fußball spielten, zwangen mich kurz zum Anhalten. Auf dem Parkstreifen vor dem Fußweg stand kein alter Renault und ich hörte auch kein Klavier. Ich hoffte, dass den Plötzen in meinem Kofferraum nicht zu warm wurde, und eilte über den Weg an den letzten Booten entlang. Ich sah niemanden, obwohl kleine Schilder an den Bäumen vor wachsamen Nachbarn warnten. Die Locus solus sah verlassen aus, als wären die Bewohnerinnen morgens, als Charlotte gerade zur Arbeit gehen wollte, einem plötzlichen Impuls gefolgt und in Leonoors altem Renault auf und davon gefahren.
Vielleicht auch schon heute Nacht, als CyberNel und ich im Polizeipräsidium in Amersfoort saßen. Wären sie heute Morgen gefahren, hätte Charlotte sicher kurz auf der Arbeit angerufen, mit einer Ausrede oder der unschuldigen Wahrheit, falls mein ungutes Gefühl völlig unbegründet war und sie nur Hals über Kopf zu einer sterbenden Tante mussten.
Die Stühle standen auf dem Achterdeck. Ich sah das alte Ruderboot und die krumm gewehte Antenne, der Rest war unbekanntes Terrain. Ich hatte den potpook in der Tasche, da ich mit ihrer Abwesenheit gerechnet hatte, doch das Schloss der Kajütentür war von der einfachen Allerweltssorte, die ich auch mit einem Stück Metalldraht binnen zwanzig Sekunden geknackt hätte. Ich blickte mich um, entdeckte jedoch nirgendwo wachsame Nachbaraugen.
Eine kleine Diele mit einer Waschmaschine und einer Garderobe mit einem Schuhregal darunter, ein Schirm in einem Ständer daneben. Eine kleine Tür führte zu einer Toilette und einer Dusche hinter einer roten Plastikgardine. Die Duschtasse war trocken. Wenn sie gestern Nachmittag schon aufgebrochen waren, nachdem Charlotte von ihrer Vormittagsschicht zurückgekehrt war, war alles in bester Ordnung und ich sah Gespenster. Aber auch in diesem Fall hätte sie bei der Arbeit angerufen.
Das Boot war schmal und ich lief so weit wie möglich in der Mitte, um zu verhindern, dass die Wachsamkeit der Nachbarn durch das verdächtige Schaukeln eines bewohnerlosen Bootes geweckt würde. Eine Anrichte mit einem Butangasherd und Küchenutensilien, dahinter ein Wohnzimmer. Die Möbel waren billig und verwohnt, aber alles machte einen ordentlichen Eindruck. Es roch nach Leonoors Zigarillos und alter Feuchtigkeit. Ein paar Pflanzen standen im Zimmer, und an der Wand hing ein von Feuchtigkeit beschädigtes, gerahmtes Farbfoto mit zwei Frauen, von denen ich eine als Leonoor Brasma erkannte. Die andere Frau hatte blondes Haar, lächelte fröhlich und trug ein Baby auf dem Arm. Elisabeth Bonnette mit ihrer neugeborenen Tochter.
Ein Poster mit dem Clown von Picasso war mit Reißzwecken an eine Tür im Hintergrund geheftet. Ich gelangte in zwei Schlafräume, die durch eine gelbe Gardine voneinander abgetrennt waren. Der vordere, in dem ein Einzelbett und ein Kleiderschrank standen, musste Charlottes sein. Auf eine Sternenkarte war ein Visitenkärtchen von Otto Runing geheftet. Ich durchsuchte das Regal mit Büchern und Papieren neben Charlottes Bett und fand wenig Persönliches. Sie war Mitglied eines Buchclubs, ein paar alte Schulhefte und Drucksachen lagen herum. Falls sie Tagebuch führte, hatte sie es mitgenommen, und ihre Geheimnisse bewahrte sie in ihrem Kopf.
Bis auf das eine, versteckt in einer flachen Zigarrenblechschachtel unter dem Fußende ihrer Matratze. Ein Stapel Banknoten, insgesamt vierhundertfünfzig Euro, ein Foto von Elisabeth, eine mit Tante Marlies unterschriebene Geburtstagskarte aus Breda, zusammengefaltet, weil sie sonst nicht in die Schachtel gepasst hätte, und ein Stück liniertes Papier, auf dem mit rotem Kugelschreiber Tante Marlies und dazu eine Telefonnummer in Breda standen.
Das Ganze sah aus wie ein zusammengesparter Notgroschen und eine Fluchtadresse, die ihr ihre Mutter vielleicht irgendwann einmal gegeben hatte, ohne dass Leonoor davon wusste. Charlotte wollte weg von hier. Die kleine Schachtel
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