Charlottes Traumpferd
entzückt, aber nicht heute. Nicht jetzt, wo mein ganzes Leben in Schutt und Asche lag.
»Ich ⦠ich reite nicht«, flüsterte ich. »Ich werde nie mehr reiten. Und ich komme auch nicht mehr hierher, wenn Gento weg ist.«
»Na, na«, sagte Herr Kessler tröstend. »Das wird schon wieder. Vielleicht kommt ja bald ein neues Pferd, um das du dich dann kümmern kannst. Wenn mich ein Besitzer nach einem zuverlässigen Mädchen fragt, werde ich dich empfehlen.«
Ich starrte den Reitlehrer fassungslos an. Begriff er nicht, was ich fühlte, was Gento mir bedeutete? Glaubte er, mir ginge es einzig und allein darum, irgendein Pferd zu pflegen?
»Danke, nein«, stieà ich bitter hervor. »Damit das nächste Pferd dann auch irgendwann verkauft wird!«
Herr Kessler zuckte angesichts seiner fehlgeschlagenen Tröstungsversuche hilflos mit den Schultern.
»Ich muss jetzt leider Unterricht geben«, sagte er. »Ich wollte nur nicht, dass du plötzlich vor einer leeren Box stehst.«
»Danke«, würgte ich hervor und wartete, bis er weg war.
Warum musste ausgerechnet Gento verkauft werden? Es gab vierzig Pferde im Reitstall, bei denen ich keine Träne vergossen hätte, wenn sie vor meinen Augen abtransportiert worden wären.
Der braune Wallach fuhr mir ahnungslos mit seiner Nase durchs Haar und schnaubte, weil es kitzelte. Nie mehrwürde ich seinen Kopf über der Boxentür auftauchen sehen, kein BegrüÃungswiehern würde mir mehr entgegenschallen! Ich würde mich wieder mit den anderen um die Schulpferde streiten müssen und nie mehr ein Lob von Isa hören, weil das Pferd, das ich geputzt hatte, so toll glänzte. Stefan, Dani, Anike, Susanne und die anderen würden hinter meinem Rücken schadenfroh grinsen. Ein fremdes Pferd würde in Gentos Box stehen, und ich würde niemals die Chance bekommen, auf ihm zu reiten!
Das ganze Ausmaà der Katastrophe brach wie ein Erdrutsch über mich herein. Ich verbarg das Gesicht in den Händen und begann, hemmungslos zu weinen.
Ich lieà die Reitstunde ausfallen und ging schweren Herzens nach Hause. Dorothee war heute mit ihrer Mutter und ihren jüngeren Geschwistern zu ihrer Oma nach Köln gefahren, Inga war schon im Urlaub. Es gab keinen Menschen, dem ich von meinem Kummer erzählen konnte und der meinen Schmerz verstehen würde.
Meine Mutter blickte mich erstaunt an, als ich nur eine Stunde nachdem ich in den Reitstall gegangen war, wieder nach Hause kam.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie besorgt.
»Gento ist verkauft worden«, entgegnete ich tonlos und ohne sie anzusehen. »Er wird schon heute Nachmittag abgeholt.«
Eine Träne lief mir übers Gesicht.
»Ach, das tut mir aber leid«, sagte Mama. »Woher weiÃt du das?«
»Herr Kessler hat es mir eben gesagt.« Ich starrte auf den Boden. »Der Lauterbach war zu feige.«
Das Telefon klingelte.
»Na, komm schon, Lotte.« Mama ging an mir vorbei zum Telefon. »In drei Tagen fahren wir nach Noirmoutier. Und danach findest du sicher ein anderes Pflegepferd.«
»Ich will kein anderes Pferd!«, schrie ich. »Ich will überhaupt nie mehr reiten. Ich wollte, ich wäre tot!«
Ausbrüche dieser Art beeindruckten meine Mutter leider nicht sonderlich. Vier Kinder hatten sie im Laufe der Zeit abgehärtet.
Bevor Cathrin oder gar Phil auftauchen konnten, stürmte ich die Treppe hoch, knallte die Tür meines Zimmers hinter mir zu und warf mich aufs Bett. Mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz und Trauer. Warum war das Leben bloà so ungerecht? Weshalb musste ich das Wichtigste in meinem Leben verlieren? Ich schluchzte und trommelte mit den Fäusten auf mein Kopfkissen. Heute Nachmittag würde ich das allerletzte Mal in meinem Leben in den Reitstall gehen, um Gento Lebewohl zu sagen. Und danach, so schwor ich mir, würde ich niemals wieder ein Pferd auch nur ansehen!
Als ich um halb drei mit bleischweren Beinen und einem Knoten im Magen die Auffahrt zum Reitstall hochlief, parkte im Hof bereits ein fremder schwarzer Geländewagen mit einem Pferdeanhänger. Da waren sie schon. Sie holten mein Pferd ab.
Meine Hand schloss sich fester um das rote Sparbuch inmeiner Hosentasche. Vielleicht lieà sich der Mann ja überzeugen und würde mir Gento wieder verkaufen. Was bedeutete ihm schon ein Pferd, das er nur einmal in seinem Leben gesehen
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