Charlottes Traumpferd
unverdrossen vom blauen Himmel. Es hätte regnen müssen! Wassermassen hätten vom nachtschwarzen Himmel stürzen müssen, tagelang ohne Unterbrechung. Das wäre ein Trost gewesen!
Gegen Mittag versuchte Florian vergeblich, mich mit Nudeln und Gulasch zu ködern. Ich widerstand der Versuchung und blieb im Bett. Irgendwann kam Dorothee herein und setzte sich auf den Bettrand.
»Mensch, Lotte«, sagte sie mitfühlend. »Es tut mir so leid. Ausgerechnet gestern, als ich nicht da war.«
Ich hatte ihr noch nicht verziehen, dass sie ohne mich das Reitabzeichen machen würde. Vielleicht hatte sie sich zusammen mit Inga heimlich über den Verkauf von Gento gefreut, diese falsche Schlange, die ich für meine beste Freundin gehalten hatte! Ich wünschte, es wäre nicht so, aber ich traute ihr nicht mehr.
»Lass nur.« Ich sah sie nicht an.
»Komm.« Sie schüttelte mich leicht an der Schulter. »Lass uns in den Stall gehen. Der Kessler hat gefragt, ob du mit ausreiten willst.«
»Nein«, erwiderte ich dumpf. »Ich gehe nie mehr in den Stall. Ich stehe überhaupt nie wieder auf, bis ich sterbe.«
Dorothee seufzte. Nach einer Weile zog sie unverrichteter Dinge ab. DrauÃen wurden die Schatten länger.
Ich hörte Papas Mercedes vorfahren, unser Hund bellte begeistert zur BegrüÃung. In den groÃen Linden im Garten zwitscherten die Vögel. Cathrin und Florian schienen auf der Terrasse zu sitzen, ihr Lachen und ihre hellen Stimmen drangen durchs geöffnete Fenster zu mir herauf. Ich hätte tot sein können, sie kümmerten sich nicht um mich. Vor lauter Selbstmitleid weinte ich ein bisschen. Etwas später klopfte es an der Tür. Es war Papa, und er hatte einen Teller in der Hand.
»Ich will nichts essen. Nie mehr«, sagte ich und starrte an die Decke. Aus den Augenwinkeln erblickte ich allerdings ein Brot mit ordentlich viel Nutella drauf, so wie ich es am liebsten mochte.
Papa stellte den Teller auf den Schreibtisch, nahm meinen Schreibtischstuhl und setzte sich.
»Es tut mir sehr leid, dass Gento verkauft worden ist«, begann er. »Und ich verstehe, wie weh es dir tut.«
»Wie kannst du das denn verstehen?«, entgegnete ich. »Du hast ihn doch gar nicht gekannt! Für dich war Gento einfach nur irgendein Pferd.«
»Das mag sein«, erwiderte Papa. »Aber ich verstehe deine Trauer und kann deinen Verlust mitfühlen. Es passiert nämlich leider immer wieder im Leben, dass man jemanden verliert, den man sehr gern hat. Ich war auch sehr traurig, als meine Eltern gestorben sind, obwohl ich Mama und euch hatte.«
Ich sah ihn an und rief mir ins Gedächtnis, wie Papa geweint hatte, als sein Vater gestorben war. Ich war erst sechs Jahre alt gewesen, aber ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, denn es war das erste Mal gewesen, dass ich Papa hatte weinen sehen.
»Der Mann stirbt oder die Frau«, fuhr Papa fort, »oder â was ganz schlimm ist â ein Kind. Man verliert Freunde, weil man umzieht. In deinem Fall ist es Gento, der verkauft worden ist, ohne dass du etwas daran ändern konntest. Er ist aus deinem Leben verschwunden. Das ist schrecklich und man ist furchtbar traurig, aber auch Verluste gehören zum Leben.«
Unten erklang Florians Stimme. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen gestand ich mir ein, dass es mir weniger ausgemacht hätte, wenn mein nervtötender kleiner Bruder auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre.
»Der Schmerz gehört dazu«, sprach Papa weiter. »Dadurch weiÃt du erst, dass dir jemand etwas bedeutet hat. Doch eines Tages wird der Schmerz weniger. Du erinnerst dich an die schöne Zeit, die du mit Gento gemeinsam verbracht hast, und irgendwann kommt ein neues Pferd, das du magst.«
»Nein, nie mehr!«, stieà ich hervor. »Nie mehr werde ich mein Herz an ein Pferd hängen, das jemand anders gehört. Denn dann wird auch das Pferd eines Tages verkauft und dasselbe Theater geht wieder von vorne los! Ich wollte Gento ja noch kaufen, ich hatte extra mein Sparbuch mitgenommen, aber der Mann hat Herrn Lauterbach fünfundvierzigtausend Euro gezahlt â¦Â«
Bei dem Gedanken an mein entwürdigendes Betteln überkam mich wieder der Zorn.
»Du bist zu diesem Mann gegangen und hast ihn gefragt, ob er dir das Pferd verkauft?«, fragte Papa ungläubig.
»Ja.« Ich setzte mich auf. »Plötzlich war
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