Charlottes Traumpferd
mich auf den Sommer mit Gento gefreut. Und plötzlich musste ich fürchten, ihn zu verlieren.
In den Sommerferien fanden nachmittags keine Reitstunden statt, deshalb hatte ich mich für die Stunde morgens um neun eingetragen. Papa und Mama hatten mir erlaubt, bis zu unserer Abfahrt nach Frankreich jeden Tag reiten zu gehen. Es waren ein paar Tage vergangen, seitdem der fremde Mann auf Gento geritten war, und allmählich kam ich zu der Ãberzeugung, dass Dorothee sich geirrt haben musste. Herr Lauterbach hatte eben einen Bekannten auf seinem Pferd reiten lassen, sonst nichts.
Gento wieherte auch an diesem Morgen, als er mich die Auffahrt hochkommen sah. Ich ging zu ihm und gab ihm einen Apfel.
»Wenn ich doch nur viel Geld hätte, dann würde ich dich sofort kaufen«, sagte ich zu dem braunen Wallach, der genüsslich den Apfel kaute und dabei mein T-Shirt vollsabberte. Ich hatte das nur so dahingesagt, aber warum sollte ich Herrn Lauterbach nicht einfach mal fragen? Vielleicht reichten die dreitausend Euro, die sich auf meinem Sparbuch angesammelt hatten.
Im Wald hinter dem Stall zwitscherten die Vögel in den Bäumen. Ab und zu kam ein früher Jogger auf dem Waldweg vorbei, der direkt am Jägerzaun hinter Gentos Box entlangführte,oder ein Spaziergänger mit seinem Hund. Herr Schmidt und Herr Pfeffer, die beiden Pferdepfleger, leerten wie jeden Morgen Schubkarre für Schubkarre dampfenden Pferdemist auf den Misthaufen, die beiden Stallkatzen wärmten sich in den Strahlen der Sonne, die einen herrlichen Sommertag verhieÃ.
Ich schmuste mit Gento und überlegte mir, wie ich das Gespräch mit Herrn Lauterbach anfangen konnte. Deshalb bemerkte ich Herrn Kessler erst, als er um den Misthaufen herumkam und vor mir stehen blieb.
»Guten Morgen, Charlotte«, sagte er.
»Hallo, Herr Kessler«, erwiderte ich überrascht und lieà Gentos Halfter los. Der Reitlehrer lächelte nicht und war irgendwie komisch. Mein Herz begann zu klopfen. Plötzlich war die düstere Vorahnung wieder da, die Dorothees Worte in mir heraufbeschworen hatten. Gento stupste mich an, aber ich beachtete ihn nicht. Wie hypnotisiert hing mein Blick am Gesicht des Reitlehrers, der normalerweise nicht über den Hof und um den Misthaufen herumgelaufen wäre, sondern mir von der Stalltür aus »Guten Morgen!« zugerufen hätte.
»Ãh ⦠Lotte«, begann Herr Kessler und fixierte die Spitzen seiner glänzenden Reitstiefel, »Herr Lauterbach hat doch sicher schon mit dir gesprochen, oder?«
»Nein.« Ich spürte, wie mir schmerzhaft die Tränen in die Augen sprangen. »Wieso?«
Dorothee hatte recht gehabt, und ich dumme Kuh hatte dem Kerl noch in höchsten Tönen vorgeschwärmt, was für ein tolles Pferd Gento war!
»Das finde ich ja ein starkes Stück.« Herr Kessler räusperte sich. »Immerhin kümmerst du dich schon eine ganze Weile hervorragend um sein Pferd. Nun ja, lange Rede kurzer Sinn. Herr Lauterbach hat Gento verkauft. Er hat geschäftlich so viel zu tun, dass ihm keine Zeit mehr zum Reiten bleibt.«
Gento war verkauft. Jetzt war es eine Tatsache, keine bloÃe Befürchtung mehr. Ich schluckte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen, doch gleichzeitig zuckte eine wilde, ohnmächtige Wut in mir hoch: Was glaubte dieser blöde Lauterbach eigentlich? Er hielt es nicht einmal für nötig, mir mitzuteilen, dass er sein Pferd verkauft und damit mein ganzes Leben ruiniert hatte! Stattdessen drückte er der kleinen dummen Gans, die sein Pferd putzte, einen lumpigen Geldschein in die Hand!
»Charlotte?« Herr Kessler stand immer noch vor mir und machte ein Gesicht, als wäre er am liebsten ganz weit weg.
»Wie konnte ich nur sein blödes Geld annehmen?«, knirschte ich zornig und verletzt.
»Wie bitte?« Der Reitlehrer sah mich verwundert an.
»Ach, nichts.« Verzweifelt bemühte ich mich darum, die Fassung zu bewahren. »Ich ⦠ich werde Herrn Lauterbach fragen, ob er Gento nicht an mich verkaufen kann. Ich habe Geld gespart â¦Â«
»Soweit ich weiÃ, ist der Handel perfekt.« Herr Kessler warf einen Blick auf seine Uhr. »Der neue Besitzer möchte das Pferd schon heute Nachmittag abholen. Lotte, nun sei nicht traurig. Wenn du möchtest, kannst du jetzt Liesbeth reiten. Wir machen einen Ausritt.«
An einem anderen Tag hätte mich diese Aussicht
Weitere Kostenlose Bücher