Charlottes Traumpferd
wärmer wurde.
»Feigling! Feigling!«, riefen Phil und Cathrin, die Wasserratten.
»Lotte ist wasserscheu!«, spottete mein kleiner Bruder.
Tja. Damit hatte er leider recht. Im Gegensatz zu meinen Geschwistern war ich wirklich alles andere als eine tolle Schwimmerin und mochte Meer, Badeseen und Freibäder lieber aus der Entfernung. Ich ekelte mich vor den Algen, auch wenn Papa immer wieder versicherte, Algen seien ein Zeichen für sauberes Wasser.
Irgendwann lieÃen sie mich in Ruhe und schwammen ein Stück hinaus. Ich machte es mir auf meinem Badehandtuchbequem und genoss den Ausblick über das Meer, den weiten, leeren Strand und die Sonne, die sich wie ein groÃer orangeroter Ball langsam dem Horizont näherte.
In diesem Moment tauchte oberhalb der Klippen eine Gruppe von Reitern auf. Ich setzte mich auf und beobachtete, wie sie ihre Pferde zwischen den Felsen hindurch an den Strand lenkten. Schlagartig war die Sehnsucht wieder da. Am langen Zügel schritten die sieben Pferde hintereinanderher. Anstandslos gingen sie in die sanft heranrollende Brandung. Das junge Mädchen auf dem ersten Pferd rief den anderen Reitern etwas zu, die daraufhin die Zügel kürzer fassten. Mit einem Anflug von Neid betrachtete ich die Braunen, Schecken und Füchse. Wie glücklich waren die Menschen, die auf ihrem Rücken saÃen!
Zuerst trabten, dann galoppierten sie. Die Hufe der Pferde trommelten dumpf auf dem feuchten Sand, wenig später verschwanden sie schlieÃlich als kleine Punkte hinter der Landzunge. Zurück blieben nur die Hufabdrücke, die die Flut später wegspülen würde. Ach, es musste wundervoll sein, abends am Meer entlangzugaloppieren! Weich und eben lag der Strand da, eine perfekte Rennbahn ohne Steine und Löcher. Die Möwen kreischten und die Brandung rauschte, und ich hätte mich darüber schwarzärgern können, dass ich so dumm gewesen war, meine Reitsachen zu Hause zu lassen.
Die ersten beiden Tage auf Noirmoutier vergingen und ich dachte an nichts anderes als an Pferde. Zusammen mit Olivier, Hélène und Jerôme, den Kindern der Couasnons, verbrachten wir die Tage am Meer. Wir kannten uns von klein auf und sprachen alle genug Französisch beziehungsweise Deutsch, um uns problemlos verständigen zu können. Wir spielten am Strand Volleyball und Boule, schwammen, stritten und tobten und trafen uns abends nach dem Abendessen wieder, um in den Klippen herumzuklettern.
Olivier und Phil, die gleich alt waren, liehen sich Surfbretter und konnten bald recht passabel durch die Bucht surfen. Cathrin und Hélène spielten am Strand Canasta und steckten die Karten dabei in den Sand, damit sie nicht weggeweht wurden. Flori und Jerôme vertrieben sich die Zeit mit Burgenbauen. Papa, Mama, Jean-Paul und Josiane quatschten, lasen Zeitung, trafen sich mit anderen Freunden oder brieten in der Sonne, wenn sie nicht schwammen oder endlose Strandspaziergänge unternahmen. Nach zehn Sommern auf Noirmoutier kannten sie hier jeden und waren nachmittags oft zu den in Frankreich üblichen Aperitifs eingeladen, die sich bis spätabends hinzogen. So sah ihre Vorstellung vom idealen Urlaubstag aus.
Ich hingegen langweilte mich zu Tode. Insgeheim hielt ich dauernd nach Pferden Ausschau.
Am Morgen des dritten pferdelosen Tages saÃen wir auf der Terrasse beim Frühstück, als ich Hufschläge vernahm. Auf dem Weg zum Strand kam wieder einmal eine Gruppe Reiter an unserem Haus vorbei. Ich seufzte abgrundtief und legte mein angebissenes Stück Baguette zurück auf den Teller.
»Was ist denn los?«, erkundigte Papa sich.
»Zu schade, dass ich meine Reitsachen nicht mitgenommen habe.« Sehnsüchtig blickte ich den Reitern nach, bis sie hinter der Wegbiegung verschwunden waren. In ein paar Minuten würden sie den Strand entlanggaloppieren, und ich saà hier mit nichts als einem Haufen Bücher!
»Tja.« Papa schlug die örtliche Tageszeitung auf. »Ohne Stiefel und Kappe kannst du leider nicht reiten.«
»Ach, Lotte«, unterbrach Mama meine trüben Gedanken, »geh doch bitte mal in die Abstellkammer und schau im Regal, ob wir noch Spülmittel haben. Ich muss die Einkaufsliste schreiben.«
Ich wunderte mich kurz, wie wir innerhalb von drei Tagen eine ganze Flasche Spülmittel verbraucht haben sollten, aber ich tat, worum sie mich gebeten hatte. Statt des Spülmittels fand ich aber etwas ganz
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