Charlottes Traumpferd
nur anzuschauen, betrachtete ich doch alles mit den Augen einerReiterin. Insgeheim bedauerte ich jetzt schon, dass ich im Zorn meine Reitsachen nicht mitgenommen hatte, aber ich würde mir eher die Zunge abbeiÃen, als das zuzugeben.
Drei Stunden später verlieÃen wir bei Nantes die Autobahn. Als das erste Mal »Noirmoutier« auf einem Schild stand, freute ich mich doch ein bisschen auf den Urlaub.
Papa lieà das Autofenster herunter. »Schmeckt ihr schon das Salz auf den Lippen, Kinder?«, scherzte er wie jedes Jahr. »Gleich sehen wir das Meer!«
Wir leckten uns die Lippen und beteuerten, dass sie schon ganz salzig waren. Papa lachte und Flori versuchte, am Horizont das Meer zu entdecken. Der Reitstall schien Lichtjahre entfernt!
An einem Samstagnachmittag war natürlich auf den StraÃen zur Küste viel los und es dauerte noch anderthalb Stunden, bis wir Beauvoir-sur-Mer erreicht hatten. Auf der groÃen Anzeigetafel lasen wir, dass im Moment der tiefste Stand der Ebbe erreicht war. Es gab nämlich zwei Möglichkeiten, auf die Insel Noirmoutier zu gelangen. Die langweilige Variante war die groÃe Brücke, die das Festland mit der Insel verband. Die zweite Möglichkeit war der Gois, eine alte StraÃe auf einem Damm, der bei Ebbe aus dem Meer auftauchte und nur für wenige Stunden passierbar war. GroÃe Tafeln zeigten auf beiden Seiten der StraÃe die Uhrzeiten an, zu denen ein gefahrloses Passieren möglich war. Trotzdem wurden in jedem Jahr Leichtsinnige, die die Geschwindigkeit der herannahenden Flut unterschätzten, bei der viereinhalb Kilometer langen Ãberfahrt vom Wasserüberrascht. Im Abstand von ein paar Hundert Metern standen balises, hölzerne Rettungstürme, auf denen man sich in Sicherheit bringen konnte, wenn das Wasser kam. Die Autos mussten natürlich unten bleiben und wurden vom Salzwasser schwer beschädigt.
Die Ãberfahrt über den Gois war auf jeden Fall spannend. Wir lieÃen die Fenster herunter und atmeten die frische Seeluft ein. Die freiliegenden Muschelbänke rochen nach verfaulten Algen, und das brackige Wasser, das überall in groÃen Lachen stand, hatte auch einen eigenartigen Geruch. Aber das gehörte einfach dazu. Ganze Familien wateten mit Eimern ausgerüstet durch den Schlick links und rechts der StraÃe und sammelten Muscheln und Krebse, die die Flut zurückgelassen hatte.
Nun war es nicht mehr weit. Auf der vierspurigen StraÃe fuhren wir bis nach Noirmoutier-en-lâÃle, dem gleichnamigen Hauptort der Insel. Dort ging es vorbei an LâÃpine nach LâHerbaudière, dem nördlichsten Ort der kleinen Insel. Wir befürchteten jedes Jahr, dass sich etwas verändert haben könnte, doch auch dieses Mal waren unsere Sorgen unbegründet. Fröhlich begrüÃten wir den Wasserturm, an dessen Fuà wie in jedem Jahr Roma campierten, wir sahen die Felder, auf denen die typischen roten Kartoffeln der Insel wuchsen, die Töpferei, die alte Mühle, das Ortsschild und die weiÃen Ferienhäuser mit den vertrauten Namen wie »Stella Maris«, »Luciole« oder »Moulin Rouge«.
Vor der Auffahrt des Hauses in der Rue du Grand Mûrier, das wir seit Jahren jeden Sommer mieteten, hüpfte ich aus dem Wagen, um die Kette zu entfernen. Papa und Mamaparkten die Autos neben dem weià gekalkten Haus mit dem Dach aus rosafarbenen Ziegeln und den hellblauen Fensterläden. Wir stiegen aus, streckten und reckten uns nach der langen Fahrt und nahmen Grundstück und Umgebung in Augenschein, während Papa den Schlüssel fürs Haus holte. Unsere Freunde Couasnon aus Le Mans besaÃen ein Haus in derselben StraÃe und hatten die Schlüssel am Vormittag beim Immobilienmakler Claude Vrignaud in Noirmoutier für uns abgeholt. Unter Mamas Regieanweisungen luden wir dann die beiden Autos aus und trugen das Gepäck zum Haus.
Das Ferienhaus hatte einen turmartigen Anbau mit einer AuÃentreppe, in dem sich zwei Schlafzimmer befanden. Hier wohnten wir Kinder. Unten gab es das Elternschlafzimmer, ein Wohnzimmer, die Küche, Bad und Klo.
Als Papa nach einer Viertelstunde mit den Schlüsseln zurückkam, nahmen wir das Haus mit groÃem Hallo in Besitz. Alles war so vertraut und unverändert wie in den letzten Jahren: das Fischernetz an den Wänden des Wohnzimmers mit den kitschigen bunten Kugellampen, das Pferdekummet mit Spiegel, die geschmacklose
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