Charlottes Traumpferd
wirst sehen, Nicolas, bald ist der Schuppen hier ein Musterstall.«
Nach der sechsten Box waren meine Arme und mein Rücken lahm und an den Händen hatte ich dicke Blasen. Ich konnte kaum noch die schwere Karre mit dem nassen Mist zum Misthaufen schieben. Immer wieder schaute ich zu dem braunen Pferd hinüber, das am sonnenverbrannten, platt getretenen Gras im Paddock knabberte und mit dem Schweif die aufdringlichen Fliegen verscheuchte.
Nicolas setzte sich in den verstaubten Renault und fuhr weg, Cécile döste in einem Sonnenstuhl vor sich hin. Rémy nahm mir schlieÃlich die Mistgabel aus der Hand und mistete die restlichen Boxen selber aus. Ich half ihm, frisches Stroh einzustreuen, und kehrte den Hof.
Dabei wanderte mein Blick wieder zu dem Braunen hinüber. Er musste Durst haben bei dieser sengenden Hitze. Ich nahm einen leeren Eimer, lieà ihn am Wasserhahn volllaufen und schleppte ihn zum Paddock. Der braune Wallach warf den Kopf hoch und zog sich in die hinterste Ecke zurück. Ich kletterte durch die Stangen des Zauns und stellte den Eimer auf den Boden. Dann zog ich mich zurück, setzte mich ins Gras, den Rücken an einen sonnenwarmen Holzpfosten gelehnt, und beobachtete das Pferd. Nach ein paar Minuten schien es sich etwas zu entspannenund begann wieder, am Gras zu knabbern. Ich schloss die Augen und merkte, wie erschöpft ich war. Die Grillen zirpten, ab und zu schnaubte im Stall eines der Pferde und manchmal hörte ich Rémys halblaute Stimme.
Ich musste eingedöst sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, stand der braune Wallach keine drei Meter von mir entfernt am Eimer und trank. Seine Ohren zuckten nervös vor und zurück und alle Muskeln waren angespannt. Er erinnerte mich an eine Gazelle in der afrikanischen Steppe, die befürchten muss, jederzeit von einem Leoparden oder einem Löwen angegriffen zu werden.
»Hallo, Brauner«, sagte ich mit leiser Stimme zu dem Pferd, ohne mich zu bewegen.
Das Pferd hob die Nase aus dem Eimer und sah mich an.
»Wovor hast du denn so eine Angst?«, fragte ich.
Das Wasser tropfte von seinem Maul und das Pferd betrachtete mich abschätzend mit aufmerksam gespitzten Ohren.
»Keiner will dir was tun«, fuhr ich fort. »WeiÃt du, dass du meinem Gento ziemlich ähnlich siehst, hm?«
Der Braune schüttelte den Kopf, um die aufdringlichen Fliegen, die an seinen Augen saÃen, zu verscheuchen, und scharrte mit dem Vorderhuf. Auf der Oberlippe hatte er einen kleinen weiÃen Fleck. Aus der Nähe erkannte ich, dass sein Fell struppig war. Auch seine Hufe sahen ungepflegt aus, er brauchte dringend neue Eisen. Dort, wo es herkam, war es dem Pferd offenbar nicht besonders gut gegangen. Kein Wunder, dass es Angst hatte und auf menschliche Gesellschaft keinen groÃen Wert legte.
Ich redete und redete lauter unsinnige Sachen und das Pferd stand da und hörte mir zu.
»Charlotte?«, hörte ich Nicolas rufen.
Ich wollte das Pferd nicht erschrecken, indem ich aufsprang oder laut zurückrief.
»Ich bin hier«, sagte ich also halblaut, und Nicolas erblickte mich.
»Dein Vater hat eben angerufen. Du sollst nicht vergessen, vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen.« Der Reitlehrer blieb in einiger Entfernung stehen. »Wie lange sitzt du schon so da?«
»Eine Stunde vielleicht.« Ich stand langsam auf. Meine Beine waren ganz steif.
Der braune Wallach hob den Kopf, doch er blieb stehen. Ich bückte mich, um aus dem Paddock zu klettern. Als ich mich umblickte, stand er noch immer neben dem Wassereimer und guckte hinter mir her.
»Sehr gut gemacht«, lobte mich Nicolas. »Ich glaube, er muss nur einfach das Vertrauen zu uns Menschen zurückgewinnen. Wir werden ihn heute Nacht drauÃen lassen und morgen versuchst du wieder, ihm etwas näher zu kommen. Ich glaube, du hast genug Geduld dazu.«
»Oh ja.« Ich war erfreut und aufgeregt.
»Du stellst ihm jetzt noch eine Schüssel mit Hafer hin und dann fährst du nach Hause.« Nicolas ging mit mir zur Futterkammer. »Sonst lassen dich deine Eltern morgen nicht mehr herkommen.«
Ich grinste und nahm die Schüssel, die Nicolas randvoll mit Hafer gefüllt hatte.
»Morgen früh bin ich um acht Uhr hier und füttere ihn«, versprach ich eifrig.
»Neun Uhr reicht auch.« Nicolas lachte. »Du warst heute wirklich eine groÃe Hilfe. Vielen Dank.«
»Es macht mir
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