Charlottes Traumpferd
Da kann er noch so gut reiten; ihm fehlt einfach das richtige Gespür für Pferde.«
»Thierry kann reiten?«, fragte ich den alten Mann erstaunt. »Das wusste ich ja gar nicht!«
»Oh ja! Er kann reiten wie der Teufel«, versicherte mirRémy. »Aber er hat keine Lust. Zu schade, so eine Talentvergeudung.«
Das war ja interessant! Ich hatte angenommen, Thierry hätte von Pferden überhaupt keine Ahnung. Vielleicht steckte doch mehr hinter seinem arroganten Auftreten, als ich gedacht hatte.
Rémy ging wieder an seine Arbeit. Ich fuhr damit fort, Won Da Pie zu verschönern. Geduldig lieà er es sich gefallen, dass ich ihm die Mähne verzog und die Schweifrübe ausschnitt.
Als ich fertig war und das Putzzeug wieder in der Kiste verstaute, kam Nicolas durch den Paddock auf mich zu. Er schüttelte den Kopf und zog die Stirn in Falten, als er Won Da Pie sah, und ich befürchtete schon, ihm gefiele nicht, was ich mit seinem Pferd angestellt hatte.
»Ich glaube, wir müssen dich behalten, Charlotte«, sagte er. »Mein Gott, du hast das Pferd völlig verändert.«
»Ist es gut so?«, fragte ich schüchtern.
»Es ist fantastisch. Wo hast du das gelernt?«
»Ich hatte zu Hause ein Pflegepferd«, antwortete ich. »Ich habe es jeden Tag so geputzt.«
»Du hattest ein Pflegepferd?«, erkundigte sich Nicolas. »Hast du es jetzt nicht mehr?«
»Nein, es wurde leider verkauft.« Ich wunderte mich, dass es gar nicht mehr so wehtat, von Gento zu sprechen.
Es war kurz nach eins, als ich mich auf das klapprige Fahrrad schwang und nach Hause radelte. Ich hatte versprochen, zum Mittagessen zurück zu sein. Papa hatte früh amMorgen am Hafen von LâHerbaudière fangfrische Miesmuscheln und Austern gekauft, dazu einen Loup de mer. Beim Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen und ich spürte, wie mein Magen nachdrücklich knurrte. Eigentlich war ich schon etwas zu spät, deshalb trat ich kräftiger in die Pedale. Die Hitze flimmerte auf dem Asphalt, Grillen zirpten im Gras am StraÃenrand. Links und rechts dehnten sich Kartoffelfelder bis zu den ersten blendend weiÃen Häusern von La Linière. Ich bog nach links ab, überquerte die groÃe StraÃe und radelte durch die Siedlung, bis ich unser Haus erreicht hatte.
Heute Abend würde ich Le Zaza beim Zwei-Stunden-Ausritt zum Strand reiten, das hatte mir Véronique eben verraten. Der fünfjährige Vollblüter war noch vor einem Vierteljahr Galopprennen gelaufen und gehörte zu Nicolasâ besseren Pferden. Es war eine Auszeichnung, dass er mir dieses Pferd anvertraute.
Papa und Mama freuten sich mit mir über meine Erfolge mit Won Da Pie, aber ich bemerkte die Blicke, die sie sich zuwarfen. Wahrscheinlich befürchteten sie, dass ich mich schon wieder hoffnungslos in ein Pferd verliebt hatte, das mir nicht gehörte.
Als ich um fünf Uhr am Club eintraf, standen Nicolas und Véronique mit Thierry vor dem Büro.
»Wir mussten den Ausritt heute Abend leider absagen«, sagte Véronique zu mir. »Nicolas und ich müssen nach Nantes fahren. Aber Thierry wird mit dir reiten.«
Ich warf dem Jungen, der am Treppengeländer lehnte und gelangweilt auf seinem Handy herumtippte, einen unsicherenBlick zu. Wahrscheinlich war er stinksauer, weil er nicht mit seiner Clique am Strand herumhängen konnte, und würde keinen Ton mit mir reden. Darauf hatte ich keine Lust.
»Ach, ich muss nicht unbedingt reiten«, sagte ich deshalb.
»Quatsch, schon okay.« Thierry blickte nicht einmal hoch. »Du bist die groÃe Wildpferdzähmerin. Es ist mir eine Ehre, dich auf deinem abendlichen Ausritt begleiten zu dürfen.«
Wieso behandelte er mich so gemein? Wut stieg in mir auf.
»Vielen Dank«, entgegnete ich mindestens so herablassend wie er. »Ich wette, die Hälfte aller Mädchen in Paris und hier am Strand würden mir vor Neid die Augen auskratzen, wenn sie das wüssten.«
Thierry sah mich an. Er zog die Augenbrauen hoch, dann grinste er. »Nur die Hälfte?«
Véronique und Nicolas grinsten auch.
»Also«, mahnte Nicolas, »keine gewagten Aktionen, mein Lieber. Hast du verstanden?«
»Natürlich nicht.« Thierry stieà sich lässig vom Treppengeländer ab und deutete eine Verbeugung vor mir an. »Nach Ihnen, Gnädigste.«
»Viel SpaÃ!«, rief
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